Das Haus der Tibeterin
ihm, den Blick stets auf die reitende Gestalt vor ihr gerichtet. Alo rechnete nicht damit, hier auf Feinde zu stoßen. Tiefer im Tal waren zwar chinesische Einheiten stationiert, doch die Soldaten, zumeist jung und unerfahren, wagten sich selten auf die Passhöhe. Behutsam suchten die Pferde ihren Weg durch die weiße Welt. In ihren Mähnen hingen schon Eiskügelchen. Doch ihre Körper waren vom Laufen warm: Dampf stieg von ihren Flanken auf. Mit etwas Glück würden sie die Passhöhe vor Einbruch der Dunkelheit überwinden. Alo und Sonam, in Felle und Decken eingemummt, bewegten ständig die Füße, die sie mit Wollschals eingewickelt hatten, damit ihnen nicht die Zehen
erfroren. Beide wussten, dass es ihnen trotz allem erheblich besser ging als den meisten anderen, die diesen Weg genommen hatten: Sie hatten Reittiere! Wie viele Flüchtlinge hatten sich zu Fuß über den Pass gequält! Nicht wenige waren dabei verunglückt, anderen hatte man die erfrorenen Füße amputieren müssen. In großer Höhe hämmerte das Herz in rasendem Tempo, die Lungen flogen. Hier galt nur das eine: vorwärtszureiten, immer vorwärts! Sie hätten nicht sagen können, wie lange es gedauert hatte, bis sie zu den Felsklippen unter dem Hauptgrat kamen. Alo kannte die Strecke, und er kannte auch einen Unterschlupf. Es wurde auch höchste Zeit; die Nacht kam, die Kälte drang durch ihre durchnässten Kleider und Stiefel. Die beißende Kälte schmerzte in den Knochen, der Schnee blendete, der Frost machte das Denken träge. Endlich fanden ihre Strapazen ein Ende. Der abgenutzte Kalkstein hatte in den Felsen Spalten gebildet, und eine davon war tief genug, dass sie mit den Pferden dort rasten konnten. Die Höhle war den Flüchtlingen bekannt. Auf dem Boden hatte die Asche zahlreicher Feuer dunkle Flecken gebildet. Die Reisenden hatten Mantras in die Wände geritzt, Segenswünsche für diejenigen, die nach ihnen kamen. Dem Gesetz der Wanderer getreu, hatten sie auch ein kleines Bündel Brennholz zurückgelassen. Das Holz war feucht und entwickelte beißenden Qualm. Alo und Sonam husteten, wischten sich die Tränen aus den entzündeten Augen. Doch das Feuer brannte und brachte allmählich auch die dünne Eisschicht an den Wänden zum Schmelzen. Glitzernde Tropfen rieselten über die Steine. Die Pferde waren nass geschwitzt und rochen stark. Alo und Sonam rieben sie mit den Satteldecken ab und hängten ihnen die Futtersäcke um. Dann setzten sie sich an das zischende Feuer, schmiegten sich eng aneinander. Sie wussten nicht, wie lange der Schneesturm dauern würde, und sie mussten mit ihren Nahrungsvorräten sparsam umgehen. Doch sie hatten Glück. Nach einer eiskalten Nacht dämmerte der frühe Morgen klar,
und mit einem Schlag entsprang dem Schoß der Dunkelheit das reine, helle Licht. Alles ringsum glänzte, funkelte und strahlte. Die Schneemassen der Berge wurden von purpurnen Bögen überquert und die Wolkendecke unten im Tal vom Sonnenfeuer durchbrochen und aufgelöst. Es war entsetzlich kalt, viel kälter als sonst in dieser Jahreszeit. Da das Wetter stets sprunghaft wechselte, galt es, sich schnell auf den Weg zu machen, bevor ein neuer Schneesturm das Gebirge überzog. Der Weg war eine einzige Eisfläche. Ilha und Joru bewegten sich langsam vorwärts, mit gesenktem Kopf, untersuchten bei jedem Schritt mit vorsichtigen Hufen die Schneekruste. Der Pfad zog sich in Schleifen dahin, am Rückgrat eines hohen, kahlen Kammes entlang, dessen eisige Flanken steil abfielen. Der harte Wind schnitt eisig wie ein Messer. Alo und Sonam ritten ohne ein Wort, mit pochendem Herzen, überließen es ihren Pferden, langsamer oder schneller zu gehen. Endlich begann der Abstieg. Von nun an hielten Felswände den Wind ab, das steigende Licht wärmte, kein Lufthauch wehte. Die Landschaft war gläsern klar, vom Leuchten der Sonne durchwoben, silbrige Funken blitzten auf jedem Stein. Noch war am stahlblauen Himmel über ihnen keine Wolke zu sehen, und auf der Südseite des Passes waren tief unten die ersten Wälder zu erkennen. Doch im Norden duckte sich eine große, finstere Wolkenfront, die fast unmerklich in die Höhe wuchs.
»Was hältst du vom Wetter?«, fragte Sonam.
Alo verzog das Gesicht.
»Das Gleiche wie gestern. Der Sturm wird am Nachmittag losbrechen.«
»Ich glaube es fast nicht mehr«, meinte Sonam.
»Doch. Wir müssen runter ins Tal. Und sehr vorsichtig sein. Die Chinesen machen Erkundungsflüge.«
Es war ein großartiger Tag, um Flüchtlinge
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