Das Haus der Tibeterin
Augen auf die Toten richtete, die Toten, die noch kommen würden, sah ich sie jetzt gesund und lachend und lebendig wieder vor mir. Ich beobachtete sie in einem Zustand von großer Neugier und Erregung, denn einst hatte ich sie im Dämmer der Träume erblickt, und sie alle waren mir vertraut. Ein paar Schritte über den Fußweg, an den Stallungen vorbei, an den Kürbissen, die vor der Vorratskammer glühten, dem Haus entgegen. Und jetzt drei Steinstufen noch. Die Tür von dunkler Kastanienfarbe, mit Haken und Riegel versehen, ragte vor mir auf und schien geschlossen. Da hörte ich ganz deutlich ein Knarren, und die Tür schwang auf.
ERSTES KAPITEL
I ch entsinne mich genau, wann die Zeit sich für mich rückwärts zu bewegen begann. Den Augenblick habe ich noch exakt in Erinnerung. Es war ja nicht so, dass vorher nichts geschehen wäre. Aber ich führte ein geordnetes Leben. Ich erinnere mich, dass meine Nase seit zwei Tagen lief und ich ohne Taschentücher keinen Schritt tun konnte. Viele Leute im Büro waren in dieser Zeit erkältet. Ich hatte einen dumpfen Kopf, konnte nicht arbeiten. Ich ließ mich krankschreiben. Jetzt lag ich im Bett und hatte hohes Fieber. Durch das Fenster sah ich ein Stück blauen Herbsthimmel, in den die dunklen Wipfel zweier Tannen hineinragten. Wir hatten starken Föhn, die Wipfel bogen sich. Erstaunlich, dachte ich, wie geschmeidig doch lebendiges Holz ist! Ich döste vor mich hin, konnte ja sonst nichts tun, sogar das Lesen strengte mich an. Zum Glück war Freitag. Am Dienstag sollte meine Arbeitsgruppe eine Sitzung haben; das neue Projekt, das wir entwickelten, hielt uns in Atem. Seit acht Monaten war ich im »Atelier 5«, einem der berühmtesten Architekturbüros in Zürich, als Bauzeichnerin fest angestellt. Ein harter Job, aber ein großartiger. Es kam vor, dass ich zwölf Stunden lang pausenlos bei der Arbeit saß, denn als jüngste und erst kürzlich eingestellte Mitarbeiterin wurde ich ausgenutzt. Aber ich war stolz, dass ich dazugehörte.
Ich versuchte, in meinem Kopf Leere zu schaffen. War das überhaupt möglich? Mir gelang es jedenfalls nicht, oder nur sehr schlecht. Das Fieber trieb meine Gedanken pausenlos zusammen und wieder auseinander. Der starke Wind, der an den
Scheiben rüttelte, rief mir ins Gedächtnis, was meine Mutter kürzlich erzählt hatte: Sie hatte vom Wind in Tibet gesprochen, von diesem weißen, kolossalen Wind, der über die Berge rollte und Eisstürme brachte. Solche Stürme konnten Bäume in Stücke reißen, Menschen erschlagen oder in Eisblöcke verwandeln. Die Eisstücke fallen wie Backsteine vom Himmel, sagte Mutter. Es kommt vor, dass der Mensch dort erstarrt, wo er liegt oder steht. Er überzieht sich mit einer Haut aus Eis und erfriert. Er bleibt bei Bewusstsein, aber nie länger als vierzig Sekunden. So lange braucht es, bis das Gehirn seine Tätigkeit einstellt.
»Ich habe das gesehen«, sagte Mutter. »Und ich glaube nicht, dass man Schmerzen dabei spürt. Schmerzen verspürt man nur, solange das Blut warm ist. - Was meinst du dazu, Kelsang?«, hatte sie ihren Bruder gefragt, denn sie hatte davon gesprochen, als er - was nicht oft vorkam - bei ihr zu Besuch war. Und bei diesen Worten hatte sie ihren Blick starr auf Kelsang gerichtet, während er, als ob er auf diese Bewegung gefasst gewesen wäre und sie schon befürchtet hätte, die Augen abwandte. Ich glaubte, ein Gefühl von Ohnmacht, von Kummer und eine Bitte auf seinem Gesicht zu erkennen. Er hatte nichts gesagt, nur mit langsamer Bewegung seine Robe über die dürre Schulter gezogen. Und ich hatte plötzlich gedacht, dass er dieses Gesicht haben würde, wenn er tot wäre. Ja, genau das gleiche Gesicht. Aber Mutter hatte nichts mehr hinzugefügt, und dann wurde über etwas anderes gesprochen.
Eigentlich gingen sie sehr vorsichtig miteinander um, freundlich, kaum ein Wort lauter als das andere. Aber da war etwas Hartes, etwas wie ein Groll zwischen ihnen. Ich hatte es schon oft beobachtet. Es war etwas, das von früher kam.
Onkel Kelsang war bereits Novize gewesen, als er nach Indien flüchtete. Bevor er Anfang der Neunzigerjahre in die Schweiz kam, war er im Jonan-Kloster in Nordindien in buddhistischer Erkenntnislehre ausgebildet worden. Jetzt lebte er
im Klösterlichen Institut in Rikon, in einer vertieften mehrjährigen Meditation. Wir bekamen ihn selten zu Gesicht. Im Grunde war es nicht nett von Mutter, dass sie ihn auf diese Weise provozierte.
Aber Mutter war nicht immer nett,
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