Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
Prolog
Es ist noch früh, aber die Hitze in der U-Bahn-Station ist bereits unerträglich. Dein Hemd klebt an deinem Körper, und du spürst, wie das gestärkte Leinen deines Anzugs welkt. Auf dem Bahnsteig drängeln Pendler und Touristen und schieben dich mit den Ellenbogen unsanft aus dem Weg. Du hast keine Chance. Vor Jahren hättest du die Menge gnadenlos durchpflügt, um bei Einfahrt des Zugs ganz vorn zu stehen. Doch dein Kampfgeist ist erloschen. Nicht mal mehr das Hauen und Stechen im Büro – die Beobachtung des Auf und Ab der Märkte, der Ehrgeiz, den anderen die besten Deals vor der Nase wegzuschnappen – interessieren dich noch. Du kannst kaum glauben, dass du wirklich hier, Schulter an Schulter mit dem Pöbel, auf dem Bahnsteig stehst. Aber dein Chauffeur hat sich schon wieder krankgemeldet, weshalb du ihn feuern müssen wirst, obwohl er dich bereits seit zwanzig Jahren fährt.
Mit einem Seidentaschentuch tupfst du den Schweiß von deiner Stirn. Ein Mädchen plappert aufgeregt mit seiner Freundin. Mit dem verschmierten, leuchtend roten Lippenstift sieht ihr Mund wie eine offene Wunde aus. Auch sonst ist sie nicht gerade attraktiv, und ihre Stimme tut dir in den Ohren weh, wie wenn jemand mit einem Fingernagel über eine Schiefertafel kratzt.
Du bist derart zwischen anderen Menschen eingequetscht, dass du nur noch mit Mühe Luft bekommst. Doch dann wird dir plötzlich eine Atempause gewährt. Denn die Menge drängt nach vorn wie eine sich aufblähende Lunge und schiebt dich an den idealen Platz am Rand des Bahnsteigs, von dem aus du direkt in den Zug einsteigen kannst. Zum ersten Mal an diesem Tag entspannt sich dein Körper. Gleich schlenderst du durch den Finanzdistrikt und siehst den anderen Anzugträgern, die zu ihren Arbeitsplätzen eilen, hinterher.
Endlich nähert sich der Zug. Du spürst den Luftzug aus dem Tunnel, hörst das schwache Surren auf den Gleisen. Und im selben Augenblick merkst du, dass jemand dich berührt und an deiner Aktentasche zerrt. Fluchend klammerst du dich an der Tasche fest. Aber wer auch immer dich bestehlen will, besitzt sogar die Dreistigkeit, dass er dir seine Finger in die Anzugtasche schiebt. Du willst dich wehren, kannst dich aber wegen des Gedränges nicht bewegen und dich nicht mal umdrehen, um den Dieb zu identifizieren. Inzwischen ist der Zug zum Glück fast da. Zwei weiße Lichter blinken dich vom Rand des Tunnels an. Der Bahnsteig ist von heißer Luft und Motorenlärm erfüllt. Du bist wieder in Sicherheit. Der Taschendieb hat sich anscheinend jemand anderem zugewandt, und deine dicke Brieftasche schmiegt sich auch weiter eng an deinen Brustkorb an. Der Zug hat seine Haltestelle fast erreicht und verlangsamt mit quietschenden Rädern seine Fahrt.
Im selben Augenblick passiert’s. Du spürst einen harten Schlag zwischen den Schulterblättern und bist zu schockiert, um laut zu schreien. Konzentrierst dich völlig darauf, nicht zu fallen, ruderst hilflos mit den Armen durch die Luft.
Niemand streckt die Hand aus, um dich einen Schritt zurückzuziehen. Vielleicht sehen sie ja nicht mal, dass du wie mit einem Kopfsprung auf die Gleise stürzt. Deine Aktentasche segelt über deine Schulter und die Köpfe all der anderen Pendler. Doch dir selbst bleibt dieses Glück verwehrt. Du wirst bei lebendigem Leib von der tonnenschweren Lok zermalmt. Der Schmerz ist unvorstellbar. Für ein paar Sekunden steht dein ganzer Körper unter Strom, und alle Nervenenden schreien deinem Hirn dieselbe Botschaft zu. Aber dann wirst du vollkommen ruhig. Dennoch bleibst du bei Bewusstsein und hörst jeden Laut. Das Quietschen der Bremsen und das Knirschen von Metall, als die Räder dicht an deinem Kopf vorüberrollen. Dein Gesicht ist in den kalten Kies gepresst, und du hast den Geschmack von Motoröl im Mund. Irgendwie hast du anscheinend überlebt, weil du direkt zwischen den Gleisen aufgekommen bist. In deiner Kehle steigt ein Lachen auf. Du versuchst, den Kopf zu drehen, kannst ihn aber nicht bewegen, weil der schwarze Bauch des Zugs dich niederdrückt. Ein paar Meter weiter blitzt ein Stück hellen Metalls, und einen Augenblick lang ergibt der Anblick keinen Sinn. Blinzelnd schlägst du deine Augen wieder auf und siehst, dass es das Armband deiner Rolex ist. Sie hängt immer noch an deinem sauber an der Schulter abgetrennten Arm. Deine Finger zucken krampfhaft und versuchen etwas zu greifen, was vollkommen unerreichbar ist.
1
Es herrschte reges Treiben in der Eingangshalle,
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