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Das Haus des Windes

Das Haus des Windes

Titel: Das Haus des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Erdrich
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sich. Er legte eine Hand darüber, als wollte er seinen Ausdruck löschen.
    Ich muss auf sie aufpassen, nach ihm Ausschau halten.
    Er nickte, und nach einer Weile stand er auf und ging mit schweren Schritten zu seinem Schreibtisch. Als er in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel grub, sah ich seinen Kopf, eine verletzliche braune Eierschale, und die weißen Strähnen. Er hatte sich angewöhnt, diese eine Schublade zu verschließen, aber jetzt öffnete er sie und holte eine Akte heraus. Er klappte sie auf, kam zu mir zurück und zog ein Foto daraus hervor. Ein Polizeifoto. Er legte das Bild in meine Hände.
    Deine Mutter hat noch nicht entschieden, ob sie es irgendwem sonst sagen will, sagte er. Es ist ihre Entscheidung. Also rede mit niemandem darüber.
    Ein ansehnlicher, aber nicht gutaussehender, kräftiger Mann mit bleicher Haut und strahlenden schwarzen Augen, in denen kein Weiß zu sehen war, nur ein Fleck fahlen Lebens. In seinem halboffenen Mund waren ebenmäßige weiße Zähne, und die Lippen waren schmal und rot. Es war der Kunde. Der Mann, der am Tag vor meiner Kündigung an der Tanke gewesen war.
    Den kenne ich, sagte ich. Linden Lark. Der hat bei Whitey getankt.
    Mein Vater sah mich nicht an, aber sein Kiefer wurde gerader, die Lippen härter.
    Wann?
    Das muss kurz vor seiner Festnahme gewesen sein.
    Mein Vater nahm mir das Bild mit spitzen Fingern wieder ab und legte es in die Mappe. Ich sah, dass es ihm wehtat, das Foto zu berühren, dass dieses stumme Abbild eine schartige Energie verströmte. Er warf die Akte in die Schublade zurück und blieb dann stumm stehen, den Blick auf die Papiere auf seinem Schreibtisch geheftet. Er öffnete die Faust vor seinem Herzen, lockerte die Finger und befühlte einen seiner Knöpfe.
    Bei Whitey getankt.
    Wir hörten meine Mutter im Garten arbeiten. Sie hämmerte dünne Stäbe, die sie zurechtgeschnitten hatte, neben ihren Tomatenpflanzen in den Boden. Als Nächstes riss sie immer alte Laken in Streifen und band die schlanken, duftigen Stängel fest, damit sie sicher in die Höhe wuchsen. Die Pflanzen hatten jetzt schon sternförmige Blüten in einem sanften, bitteren Gelb.
    Er hat sich lange mit uns befasst, sagte mein Vater leise. Er weiß, dass wir ihn nicht halten können. Denkt, dass er davonkommt. Wie sein Onkel.
    Wieso sein Onkel?
    Der Lynchmord. Das weißt du doch.
    Das ist längst Geschichte, Dad.
    Larks Großonkel war Teil dieses Lynchmobs. Deshalb diese Verachtung, vermute ich.
    Ich frage mich, ob er überhaupt weiß, wie genau die Leute hier sich an das alles erinnern, sagte ich.
    Wir kennen die Familien der Männer, die gehängt worden sind. Wir kennen die Familien der Männer, die sie hängten. Und wir wissen, dass unsere Leute an dem Verbrechen, für das sie gehängtwurden, unschuldig waren. Ein Lokalhistoriker hatte den Fall ausgegraben und ihre Unschuld bewiesen.
    Draußen räumte meine Mutter jetzt die Gartenwerkzeuge weg. Sie klapperten in ihrem Eimer. Sie drehte den Hahn auf und begann ihren Garten zu gießen, und das Wasser plätscherte sanft mal hier, mal da.
    Wir kriegen ihn trotzdem, sagte ich. Oder, Dad?
    Aber er starrte auf seinen Schreibtisch, als ginge sein Blick durch die Eichenholzplatte in die Schublade und durch den Pappdeckel der Akte zum Foto und jenseits des Fotos vielleicht zu irgendeinem anderen Foto oder Beweis einer lange vergangenen brutalen Tat, die sich noch immer nicht ausgeblutet hatte.
    * * *
    Nach dem Tod seiner Mutter hatte Linden Lark ihr Farmhaus am Rande von Hoopdance behalten. Er war in das heruntergekommene zweigeschossige Gebäude eingezogen, das früher von einem Ziergarten und großen Gemüsebeeten umgeben gewesen war. Inzwischen war natürlich alles zugewuchert und mit Polizeiband abgesperrt. Spürhunde hatten wieder und wieder das Grundstück abgesucht, die umgebenden Felder und Wälder, und hatten nichts gefunden.
    Keine Mayla, sagte ich.
    Es war der Nachmittag desselben Tages, im Haus war es still, und ich unterhielt mich wieder mit Dad. Ich hatte mein Spiel gespielt. Er war reingekommen. Diesmal erzählte er mir einiges. Der Gouverneur von South Dakota hatte berichtet, das Kind, das er adoptieren wollte, sei in einer Sozialhilfeeinrichtung in Rapid City untergebracht, und diese Aussage war bestätigt worden. Die Mitarbeiter der Einrichtung hatten erklärt, irgendjemand, vermutlich ein Mann, hätte das Kind einen Monat zuvor schlafend in einer Autositzschale in der Möbelabteilung eines Goodwill-Ladens

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