Engel der Vergessenen
Um 10.27 Uhr morgens landete auf dem schmutzigen Dschungelflugplatz Homalin im Norden von Birma ein kleines Flugzeug. Es war ein uralter, klappriger Kasten, mit roter Leuchtfarbe bemalt, und der Pilot, der ihn flog, mußte ein mutiger Mensch sein, denn mit solch einem verrotteten Ding über Urwälder, Berge, Sümpfe und unerforschte Flußläufe zu fliegen, setzte Kaltschnäuzigkeit voraus oder vielleicht auch nur asiatische Ruhe und die Erkenntnis, daß das Leben früher oder später doch beendet werden mußte und man sich die Art zu sterben nicht aussuchen konnte.
Die kleine, viersitzige Maschine tanzte über die Graspiste, ein armseliges Flugfeld, höckerig wie ein Waschbrett, aus dem Dschungel herausgeschlagen und an allen Seiten auch wieder abrupt in den feuchten Regenwald übergehend. Die Räder schlugen auf, das Flugzeug wurde durchgeschüttelt, rollte aus, fuhr einen Bogen und stand dann mit ächzendem Motor mitten auf dem Platz. Der rotlackierte Propeller drehte sich träge und blieb in waagerechter Lage hängen.
Kaum war das Knattern des Motors erstorben, öffnete sich die Tür der Kanzel, zwei Pappkoffer flogen auf die Erde, ein Mann sprang ihnen nach und reckte sich, als sei er bisher zusammengeklappt transportiert worden.
Dann lehnte er sich gegen den Flugzeugrumpf und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn.
Niemand erwartete ihn. Nur die feuchte, den Atem benehmende faulige Dschungelhitze schlug ihm entgegen.
Er war ein Mann, von dem man früher gesagt hätte: er ist ein Mordskerl. Aber davon war wenig übriggeblieben. Die breiten Schultern hatte er behalten. Er war mittelgroß. Über den Kopf wucherten dunkelbraune, von weißen Fäden durchzogene Haare. Graublaue Augen musterten mit einem Blick voller Ekel die Umgebung. Wenn er ging, sanken die breiten Schultern etwas nach vorn, der Körper begann sich zu wiegen in diesem typischen Seemannsgang, der überall, selbst auf dem Land, die Schlingerbewegung des Schiffes auffangen wollte.
Man sollte wissen, wo Homalin liegt. Es ist ein Drecknest am Chindwin River, hoch oben in Birma zwischen Indien und China, einer Gegend, in der die Schöpfung nach dem siebten Tage stehengeblieben war. Es gibt solche Gegenden überall auf der Welt. Im mittleren Becken des Amazonas wie im nördlichen Kanada, an den tibetischen Hängen des Himalaja und im glühenden Sandmeer der Gobi – aber hier, im Dschungel von Homalin, fragte man sich wirklich, warum die Menschen, die hier leben, noch nicht den Verstand verloren haben. Eine unsichtbare, aber um so kräftiger riechende Wolke von Verwesung lag über dem Land, der faulige Geruch eines riesigen Komposthaufens, ein Verdampfen von Schimmel.
Aus dem Flugzeug kletterte der Pilot. Er war ein Birmese unbestimmbaren Alters. Er trug einen weißen Overall und eine weiße Mütze mit einem grünen Kunststoffschirm. Schweigsam stellte er sich an den linken Flügel seines Flugzeuges, benutzte ihn als Schreibunterlage und trug in das Bordbuch den Landebericht ein:
»Homalin 10.27 Uhr. Flug normal. Keine Vorkommnisse. Passagier Dr. Reinmar Haller abgeliefert. Rückflug nach Auftanken …«
Dr. Haller sah sich um. Am Rand des Flugfeldes lagen zwei Baracken, die einzigen Zeichen, daß hier in dieser Wildnis Menschen wohnten. Warum man den Flugplatz angelegt hatte, gehörte zu den vielen Rätseln dieses Landes. Er hatte keine taktische Bedeutung, und doch hing an einer Stange zwischen den flachen Gebäuden die birmesische Fahne und parkten im Schatten der Bäume ein paar grüngestrichene Jeeps. Aber sonst rührte sich nichts. Bis auf ein Röcheln des abgestellten Flugmotors, das wie das letzte Atmen eines Pneumoniekranken klang, war die Stille vollkommen. Ein bedrückendes Schweigen in einem riesigen heißen grünen Grab.
Hier wird der Mensch klein und unwichtig wie eine Mücke, dachte Dr. Haller. Er trat aus dem Schatten des Flugzeugrumpfes, legte die rechte Hand über die Augen und sah hinüber zu den Baracken. Sein Verdacht, man habe diese Schneise in den Dschungel nur deshalb geschlagen, um den Abschaum der Menschheit hier abladen zu können, verstärkte sich. Aber hatte er etwas anderes erwartet?
Als er in Rangun die freigewordene Arztstelle angenommen und der Minister für Gesundheit, ein kleiner, dicker fröhlicher Mann mit einer großen Brille, zu ihm gesagt hatte: »Doktor Haller, wir freuen uns, daß wir eine Kapazität wie Sie für diese Aufgabe gewinnen konnten«, hätte er schon vorsichtig werden müssen.
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