Das Herz des Wolfes (German Edition)
Stadtwerke ausgegeben, oder war er ein Bekannter?
Wenn Riehl sonst niemanden fand, dem er die deftige Tracht Prügel verabreichen konnte, würde er sie einfach für sich selbst aufsparen. Wenn er seine Schlüsse ein klein wenig schneller gezogen hätte, wenn er ein klein wenig früher von der Polizei in Jacksonville gehört und sofort die Datenbanken durchsucht hätte, anstatt mit seinem neuen Chef, dem Greifen und Wyr-Wächter Bayne, Theorien zu bequatschen, wäre diese hübsche Frau vielleicht noch am Leben.
Gottverdammt, das hier war zum Teil seine Schuld.
Er musste die Zentrale anrufen, aber …
Riehl drehte sich langsam um sich selbst und registrierte mit seinen scharfen Augen jede Einzelheit der Umgebung. Die Wohnung des Opfers war ein winziges Ein-Zimmer-Apartment, so groß wie eine Briefmarke, im obersten Stock eines viergeschossigen Hauses ohne Fahrstuhl. Es war mit platzsparenden Ikea-Möbeln eingerichtet und so stark geheizt, dass Riehl es als stickig empfand. An einer Wand war ein Flachbildschirm angebracht. Die Bewohner solcher kleiner Apartments in New York mussten allesamt gejubelt haben, als diese Erfindung auf den Markt kam. Es gab Pflanzen und Bücher und unnützen Krempel wie einen Haufen Mädchenkram auf einer Schlafzimmerkommode. Er öffnete die Schränke einen Spalt und fand lauter normales Zeug – Kleidung, Schuhe, Mäntel, ein paar Regenschirme und kleine Schachteln. Auf einem Tisch in der Essnische, gerade groß genug für eine Barbiepuppe, lag eine zusammengefaltete Zeitung von Donnerstag neben einer offenen Schachtel mit Festtagsdekorationen. Obenauf lag eine elegante, mit Federn und Pailletten besetzte Halbmaske.
Christen hatten Weihnachten, Juden hatten Chanukka, und der Universalfeiertag der Afrikaner war Kwanzaa. Für die Alten Völker war die Wintersonnenwende die Zeit, in der sie zu Ehren der sieben Primärmächte die Maske der Götter feierten. Offenbar hatte das Opfer gerade angefangen, seine Wohnung für das Festival der Maske in der kommenden Woche zu schmücken. Vielleicht hatte die Frau vorgehabt, auf einen der zahlreichen Bälle zu gehen, die in der ganzen Stadt veranstaltet wurden. Es war eine hübsche Maske, eine Maske, wie man sie seinen Kindern vererbte. Sie dürfte jemanden den einen oder anderen Gehaltsscheck gekostet haben. Vielleicht hatte das Opfer sie mit glücklichen Erinnerungen und Vorfreude betrachtet.
Insgesamt war das Apartment recht typisch für die Stadt und bot ein perfektes, reizendes Zuhause für eine zierliche, allein lebende Fünfundsechzig-Kilo-Frau wie das Opfer. Riehl selbst war einsfünfundneunzig groß und brachte über hundertdreißig Kilo auf die Waage. Nachdem er sechsundneunzig Jahre lang als Captain in der Armee des Wyr-Lords Dragos Cuelebre umhergezogen war, hatte er erst kürzlich beschlossen, sich zu domestizieren und sesshaft zu werden. Er war es gewohnt, ein raues Leben zu führen und viel Zeit im Freien zu verbringen, oft bei schlechtem Wetter. Dieser kleine, überheizte Raum löste bei ihm klaustrophobe Zustände aus.
Für ihn gab es keinen Zweifel daran, dass der Mord selbst der Grund für den Überfall gewesen war. Der Schmuck des Opfers lag noch auf der Kommode verstreut, und in der Handtasche konnte Riehl ein Portemonnaie erkennen. Allem Anschein nach hatte der Mörder nichts mitgehen lassen, es sei denn, er hätte sich ein kleines Stück von den Organen abgeschnitten, um es als Souvenir aufzubewahren. Das würde sich bei der Autopsie herausstellen.
Er wurde das Gefühl einfach nicht los, dass noch jemand im Zimmer war. Er suchte nach einem verräterischen Hinweis, nach irgendetwas. Ein Auge, das hinter einer Schranktür hervorlinste, oder eine Webcam, versteckt in einem niedlichen rosa Hasen. Sogar die schneebedeckte Umgebung vor dem Fenster suchte er ab, um zu sehen, ob jemand den Schauplatz von einem anderen Gebäude aus beobachtete.
Während er suchte, atmete er bewusst tief ein und aus. Alles war von dem schweren Kupfergeruch des Blutes durchdrungen, der sogar fast den Eigengeruch des Opfers überlagerte. Es gab noch andere Gerüche, die er als normal einstufte und ausblendete, wie den schwachen Duft nach gebratenem Fisch und die muffigen Blüten in einer Potpourri-Schale. Der Wolf in Riehl, seine Wyr-Gestalt, hätte von dem Potpourri einen Niesanfall bekommen und nach dem Fisch gesucht, um ihn zu verschlingen.
Zwei weitere interessante Punkte fielen ihm auf. Ganz hinten in seiner Kehle nahm er schwach den Geruch nach
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