Das Imperium der Woelfe
befürchtet, Spuren ihrer inneren Erregung zu entdecken, doch sie blickte in dasselbe glatte Gesicht mit den selben regelmäßigen, schneefahlen Zügen, die eingefasst wurden von den rabenschwarzen Strähnen ihrer Kleopatrafrisur. Sie erblickte dieselben mandelförmigen dunkelblauen Augen - und dieselben Lider, die sich mit der Trägheit einer Katze langsam schlossen.
Sie sah, wie Laurent zurückkam. Er beugte sich im Wind nach vorn und schlug den Kragen seines schwarzen Mantels hoch. Plötzlich durchfuhr ihren Körper eine Welle der Wärme und Lust, und sie musterte ihn eingehender: seine blonden Locken, seine leichten Glubschaugen, die Qual, die auf seiner Stirn abzulesen war... Mit unsicherer Hand umklammerte er den Saum seines Mantels, dabei wollte die Bewegung des schüchternen, vorsichtigen Jungen nicht zu dem hochrangigen Beamten passen, der über beachtliche Einflussmöglichkeiten verfügte. Wenn er einen Cocktail bestellte und in kleinsten Mengenangaben die gewünschte Mischung beschrieb, machte er dieselbe linkische Bewegung; oder wenn er seine beiden Hände zwischen ihre Schenkel legte und die Schultern hob, als sei ihm kalt oder als schäme er sich. Diese ungelenke Zartheit hatte sie seinerzeit verführt, seine Fehler und Schwächen, die so wenig zu der Macht passten, die er in Wirklichkeit besaß. Was war davon geblieben? Was liebte sie noch an ihm? Woran konnte sie sich erinnern?
Laurent sank auf die Sitzbank, während die Schranke sich öffnete, und grüßte die bewaffneten Soldaten, als der Wagen den Schlagbaum passierte. Die respektvolle Geste ließ Annas Wut erneut aufschäumen, ihre Erregung schwand, und sie fragte mit allem Nachdruck: »Was sollen all diese Bullen hier?«
»Es sind Militärs«, korrigierte Laurent. »Soldaten.«
Das Auto trieb im Verkehrsstrom davon. Die Place du Général Leclerc in Orsay schien winzig und war doch gewissenhaft angelegt: eine Kirche, ein Rathaus, ein Blumenhändler, jede Einzelheit überdeutlich zu erkennen.
»Was sollen diese Soldaten?«, fragte sie hartnäckig.
Laurent antwortete unkonzentriert, zerstreut: »Wegen des I5O.«
»Wegen was?«
Er sah sie nicht an, seine Finger klopften gegen die Fensterscheibe. »I5O, das Radionuklid, das man dir für die Untersuchung ins Blut gespritzt hat. Es ist eine radioaktive Substanz.«
»Ist ja zauberhaft.«
Laurent wandte sich ihr zu, er wollte Anna besänftigen, doch seine Pupillen konnten seine Beunruhigung kaum verbergen. »Es ist vollkommen ungefährlich.«
»Und diese Wächter sind alle da, weil es vollkommen ungefährlich ist?«
»Stell dich nicht so dumm an. In Frankreich werden alle Vorgänge, bei denen nukleares Material verwendet wird, von der CEA, der Kommission für Atomenergie, überwacht. Und bei der CEA sind nun mal Militärs, das ist alles. Eric ist verpflichtet, mit der Armee zusammenzuarbeiten.«
Anna lachte ironisch.
»Was ist los?«
»Nichts. Aber musstest du unbedingt das Krankenhaus in der Umgebung von Paris aussuchen, in dem es mehr Uniformen als weiße Kittel gibt?«
Er zuckte mit den Schultern und betrachtete die Landschaft. Der Wagen passierte längst das Bièvre-Tal, dunkle braunrote Wälder zogen zu beiden Seiten der Autobahn vorüber, und über weite Strecken stieg der Asphalt an, um kurz darauf ebenso weit abzufallen. In der Ferne versuchte ein grelles weißes Licht, sich einen Weg durch die tief hängenden Wolkenschwaden zu bahnen, der strahlende Glanz der Sonne schien in jedem Augenblick die Wolken durchbrechen und die Landschaft in helles Licht tauchen zu können.
Eine Viertelstunde fuhren sie schweigend dahin, dann begann Laurent erneut: »Du musst Vertrauen zu Eric haben.«
»Ich lasse niemanden an mein Gehirn.«
»Eric weiß, was er tut. Er gehört zu den führenden Neurologen Europas... «
»Und er ist dein Jugendfreund, das hast du mir schon hundert Mal erzählt.«
»Es ist eine große Chance, von ihm behandelt zu werden. Du...«
»Ich bin nicht sein Versuchskaninchen.«
»Sein Ver-suchs-ka-nin-chen?« Er betonte jede einzelne Silbe. »Wovon redest du bloß?«
»Ackermann beobachtet mich. Er interessiert sich für meine Krankheit. Sonst nichts. Dieser Kerl ist Forscher, aber kein Arzt.«
Laurent seufzte: »Du bist ja nicht bei Trost. Du bist wirklich... «
»Verrückt?« Annas aufgesetztes Lachen sackte in der Mitte der Sitzbank wie ein eiserner Vorhang nieder. »Das ist keine Neuigkeit.«
»Und was hast du vor? Ruhig abwarten, bis die Krankheit sich weiter
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