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Das Kartengeheimnis

Das Kartengeheimnis

Titel: Das Kartengeheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Gaarder
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sie aber das Versäumte dadurch nachholen wollten, daß sie jeden Tag das Wundergetränk zu sich nahmen – dann war es kein Wunder, daß sie schließlich mit allem verschmolzen, was sie umgab. Ich erkannte plötzlich, was es für Frode und den Joker für einen Sieg bedeutet haben mußte, daß es ihnen trotz allem gelang, auf die Purpurlimonade zu verzichten.
    Das Reh schaute mich nur ein, zwei Sekunden lang an, dann sprang es davon. Für einen Augenblick erlebte ich eine unfaßbare Stille. Dann begann eine Nachtigall mit ihrem märchenhaften, jubelnden Gesang. Daß ein so kleiner Körper soviel Klang und Atem und Musik enthalten konnte, war erschütternd.
    Diese Welt, dachte ich, ist ein so phantastisches Wunder, daß man nicht weiß, ob man lachen oder weinen soll. Man sollte vielleicht beides, aber es gleichzeitig zu tun ist nicht leicht.
    Mir fiel eine Bäuerin unten im Dorf ein. Sie war erst neunzehn, aber in dieser Woche war sie einmal mit einem kleinen Mädchen in die Bäckerei gekommen, das erst zwei oder drei Wochen alt war. Ich hatte mich nie sehr für kleine Kinder interessiert, aber als ich in den Korb blickte, in dem das Mädchen lag, glaubte ich, in dem Kinderblick stumme Verwunderung zu erkennen. Ich hatte darüber nicht weiter nachgedacht, doch als ich nun auf einem Baumstumpf im Wald saß und die Nachtigall singen hörte, während ein Sonnenteppich sich über die Gipfel auf der anderen Seite des Dorfes legte – da ging mir auf, was das kleine Baby wohl gesagt hätte, wenn es hätte reden können: Es hätte gesagt, daß es in eine seltsame Welt gekommen sei. Ich hatte nicht vergessen, der jungen Mutter zu ihrem Kind zu gratulieren, aber im Grunde hätte ich dem Kind gratulieren sollen. Wie man sich vor jedem einzelnen neuen Weltbürger verneigen sollte und sagen: »Willkommen auf der Welt, kleiner Freund! Du hast wirklich unglaubliches Glück, daß du herkommen darfst!«
    Auf einmal fand ich es unendlich traurig, daß wir Menschen uns überhaupt an etwas so Unfaßbares wie das Leben gewöhnen. Eines Tages halten wir es für selbstverständlich, daß es uns gibt – und dann, ja, dann denken wir erst wieder darüber nach, wenn wir diese Welt wieder verlassen müssen.
    Ich spürte, wie ein gewaltiger Erdbeergeschmack durch meinen Oberkörper strömte. Es schmeckte wunderbar, aber auch so stark und mächtig, daß ich es fast wie eine Art Übelkeit empfand. Nein, mich brauchte niemand zu überreden, nicht mehr von der Purpurlimonade zu trinken. Ich wußte, daß mir die Blaubeeren im Wald und ab und zu ein kleiner Besuch von einem Reh oder einer Nachtigall genügten.
    Ich saß noch lange auf dem Baumstumpf. Als ich gerade aufstehen wollte, war mir, als hörte ich nicht weit entfernt Geraschel. Als ich mich umsah, entdeckte ich einen kleinen Wicht, der aus dem Unterholz in meine Richtung lugte. Mein Herz schlug Purzelbäume, als mir aufging, daß es der Joker war.
    Er kam ein paar Schritte näher, dann sagte er: »Man hat sich an dem herrlichen Trunk gelabt? Mam, mam, sagt der Joker.«
    Ich hatte noch immer die lange Geschichte der magischen Insel im Körper und fürchtete mich nicht. Auch der erste Schreck über sein plötzliches Auftauchen legte sich rasch. Ich hatte das Gefühl, daß wir zusammengehörten. Ich war jetzt selber ein Joker im Kartenspiel.
    Ich stand auf und ging ihm entgegen. Er trug nicht mehr sein lila Clownsgewand mit den Glöckchen, sondern einen braunen Anzug mit schwarzen Streifen. Ich reichte ihm die Hand und sagte: »Ich weiß, wer du bist.«
    Er nahm meine Hand, und ich hörte leises Glöckchenklingeln. Ich begriff, daß er den Anzug über dem Clownsgewand trug. Seine Hand war kalt wie der Morgentau.
    »Man hat die Freude, dem Soldaten aus dem Norden die Hand zu drücken«, sagte er.
    Er zeigte ein seltsames Lächeln, als er das sagte, und seine Zähnchen glitzerten wie Perlmutt.
    »Von nun an muß dieser Bube leben. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Bruder!« fuhr er fort.
    »Ich... ich habe doch gar nicht Geburtstag«, stammelte ich.
    »Pst! sagt der Joker. Es reicht nicht, einmal geboren zu werden, sagt er. Aber heute nacht ist der Bäckergeselle neugeboren worden, das weiß der Joker, und deshalb gratuliert er ihm.«
    Er sprach mit piepsiger Puppenstimme. Ich ließ seine kalte Hand los und sagte: »Ich... ich habe alles gehört... über dich und Frode und die anderen...«
    »Natürlich«, erwiderte er. »Denn heute ist Jokertag, mein Junge, und morgen beginnen wir mit

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