Das lange Lied eines Lebens
sich nehmen? Nein, sie muss die Hand darauflegen und ihren Namen nennen. Denn der Mann – der weiße Mann auf seinem großen, weichen Sessel – muss den Namen wissen, auf den sie hört. Aber nicht so leise. Er will, dass sie lauter spricht. Doch selbst als sie all ihren Atem ausströmen lässt, um ihn auszusprechen, kann er sie nicht hören.
Der Mann, dem befohlen wird, an ihrem Mund zu lauschen, neigt den Kopf so dicht an sie heran, dass sie die weißen Schuppen toter Haut in seinem Haar erkennen kann. Und als er sich wieder aufrichtet, stößt er den Atem aus, den er angehalten hat, damit ihr Gestank ihn nicht überwältigt, und verkündet ihren Namen. »July«, sagt er. Aber July wer? July wer? Der große, große Mann muss es wissen.Wieder hält der Schuppenhaarige den Atem an und beugt sich vor, aber einen Nachnamen hört er nicht.Als er darauf wartet, dass July antwortet, wird sein Gesicht
rot wie die Hoden eines Ziegenbocks. Aber sie hat den Namen Goodwin schon zu viele Jahre nicht mehr ausgesprochen und wird es auch jetzt nicht tun. Die Angeklagte wisse keinen anderen Namen, muss der ächzende Mann schließlich vermelden.
Hinter einem Pult am anderen Ende des Saals steht aufrecht ein anderer Weißer mit Backenbart und Wampe. Er sagt, sie, diese Negerin – und sein fleischiger Zeigefinger weist unentwegt hinüber zu July –, habe auf der Plantage Unity ein Stück Land besetzt.
»Lebst du unrechtmäßig auf diesem Land?«
Was? Sie kann ihn nicht hören.
»Lebst du in den Grenzen des Anwesens?«
Was? Wie soll sie antworten, wenn sie ihn nicht hören kann?
»Ach, gleichviel, fahren Sie fort.«
Sie habe auf diesem Stück Land gelebt, seit der Besitz von Amity auf Unity übergegangen sei und die Grenzen neu gezogen worden seien, beginnt der feiste Mann. Sie sei erst Sklavin bei John Howarth gewesen, dem Amity gehört habe, dann bei seiner Schwester Caroline Mortimer. Mrs Mortimer habe einen gewissen Robert Goodwin geheiratet, und in der Folgezeit sei das Anwesen verkauft worden. »Jetzt leben sie in England, Euer Ehren, in England.«
Seit vielen, vielen Jahren lebe die Angeklagte auf der Schwemmebene. Sie lebe dort mit mehreren anderen Negern zusammen, die auf der Plantage Amity gearbeitet hätten. Nie habe sie eine Pacht gezahlt, so der Staatsanwalt. Zwar handele es sich um unebenes, unwirtliches Brachland, das sich nicht kultivieren lasse, aber es liege innerhalb der Grenzen des Anwesens. Doch die Neger ließen sich nicht vertreiben.
Die hier (und wieder weist der fleischige Finger auf July) erkläre, sie habe kein anderes Zuhause als dieses. Sie behaupte, ihr ganzes Leben auf Amity gelebt zu haben. Die Plantage sei ihr Geburtsort, wo die Knochen ihrer Angehörigen ruhten et
cetera et cetera. »Wie so viele Neger, Euer Ehren, glaubt sie auf ihre kindliche Art, es gebe keine andere Welt.«
Wie viele Neger dort lebten? Anfangs etliche. Sämtliche Bewohner des Negerdorfs der Plantage Amity. Sie seien eine Landplage. Und, ach ja, mehrere Versuche seien unternommen worden, um sie zu vertreiben. »Der Anwalt von Unity – ein gewisser Mr Fielding, Euer Ehren, er betreibt mehrere Anwesen in der Gemeinde für Sir Salisbury Edwards in Bristol, England, der Amity erworben und die Ländereien zusammengelegt hat –, dieser Anwalt sagt, viele Anstrengungen seien unternommen worden, um die Gegend zu räumen. Aber anders, als einige Baptistenpfarrer in der hiesigen Presse angedeutet haben, hat er nie ungerechtfertigte Gewalt angewendet, möchte er den Gerichtshof wissen lassen. Niemals.«
Der Anwalt sei der Meinung, damals habe er das Recht gehabt, dafür zu sorgen, dass die Neger aus den Grenzen des Anwesens vertrieben wurden. Aber er habe nicht angeordnet, die Ländereien mit Bränden zu räumen. Die Brände seien von den Negern gelegt worden, die nicht gemerkt hätten, wie zundertrocken das Land während der damaligen Dürrezeit geworden sei. Und die Miliz sei nur eingesetzt worden, um jene aufzugreifen, die an dem Gefängniszwischenfall in der Stadt beteiligt waren.
Wie das Gericht sich erinnern könne, hätten mehrere Hundert Neger das Gefängnis umzingelt, um die Freilassung von fünf oder sechs Landbesetzern oder, wie sie es nannten, Siedlern zu fordern, die des Landfriedensbruchs angeklagt und festgenommen worden waren, als die Polizei versuchte, sie zu exmittieren. Die Neger hätten gesungen und damit gedroht, Jamaika zu einem zweiten San Domingo zu machen und alle Weißen von der Insel zu verjagen.
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