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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Levy
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hatte, für diese Familie allein zu groß sei.
    Geneigter Leser, du weißt genauso gut wie ich, dass ein auf dieser tropischen Insel geschlachtetes Schwein schnell aufgegessen werden muss, bevor das Fleisch verdirbt und von so vielen winzigen Lebewesen wimmelt, dass es die Reise von der Küche auf deinen Teller auch ohne fremde Hilfe antreten kann. Natürlich habe ich Lillian gesagt, dass sie warten soll mit dem Schlachten, bis die riesige Sau mehr Mäuler füttern kann. Glaubst du etwa, sie hätte auf mich gehört – auf mich, eine alte Frau? Ihr Mann müsse an einem Schweinefuß nagen, hat sie mir weismachen wollen. Ihr Mann möchte an einer Schweinebacke kauen. Die Schweineknochen muss sie auskochen, damit ihr Mann seine Lieblingsbrühe trinken kann. Etwas von dem Fleisch ist eingelegt und gepökelt worden, aber trotzdem essen wir seit fünf Tagen bei jeder Mahlzeit Schwein.
    Lass uns also dabei zusehen, wie mein Sohn seine Familie sanft auffordert, mit dem Essen zu beginnen. Schau nur, wie er sich Fleischbrocken in den Mund schiebt. Dann lass uns warten, solange die scharfe, scharfe Scotch Bonnet, die Miss Essie verwenden muss, um dem Fleisch so viel Würze zu verleihen, dass kein ranziger Geschmack zurückbleibt, ihm den Atem nimmt. Siehst du seine Brust? Gleich hebt sie sich bei einem Schluckauf. Höre, wie jede seiner drei Töchter zu quengeln anfängt, weil das Fleisch zu feurig ist, um es zu schlucken. Selbst seine Mama beginnt zu weinen; denn ich habe nicht mehr genug Zähne, um Fleisch zu zerkauen, und muss das scharfe Gewebe
mit der Zunge im Mund bewegen, bis ich es auf die wenigen Backenzähne spießen kann, die mir verblieben sind. Aber mein Sohn denkt ja gar nicht daran, seine Frau wegen der Qualen zu schelten, die wir alle leiden. Er hebt lediglich die Hände und entscheidet, dass in diesen Angelegenheiten Lillian das Sagen hat.
    Doch nach all den Ablenkungen will ich zum Punkt kommen: Mein Papier ist fast aufgebraucht, beinahe hätte es nicht gereicht. Zwei Mal hat mein Sohn mir versprochen, meine Vorräte mit hundert Blatt »feinstem weißem Büttenpapier« oder dergleichen aufzustocken. »Papier ist Papier«, habe ich ihm gesagt. Und zwei Mal hat er sich mit der Hand vor die Stirn geschlagen und gesagt, er habe es vergessen! Aber darum geht es im Augenblick nicht.
    Meine Geschichte, geneigter Leser, ist nun endlich abgeschlossen. Nach dem letzten Wort setzte mein Federhalter einen Schlusspunkt und wurde beiseitegelegt. Ohne dass meine sorgenvollen Gedanken auch nur einmal zu July gewandert wären, habe ich den ganzen Nachmittag über in meinem Sessel gedöst, bis die untergehende Sonne das Zimmer allmählich tiefrosa verfärbte. Ich erlaubte meiner müden Brust sogar, vor Aufregung ein wenig zu schwellen, denn bald würde mein Sohn diese Geschichte in Druck geben, und ich würde mich nicht länger in schwachen Erinnerungen ergehen müssen, sondern ein Buch in der Hand halten.
    Die letzten Seiten meiner Geschichte händigte ich meinem Sohn Thomas aus, als wir beide still auf der Veranda saßen, und zwar an der Stelle, wo die Zweige des Süßorangenbaums ihre Früchte jedem, der dort ruht, wie ein Geschenk darbieten. Natürlich musste Miss May unbedingt zu ihrem Papa rennen, sich zu ihm auf den Schoß setzen und zärtlich an seinen Ohren zupfen, bis er ihr versprach – geneigter Leser, bitte merke auf, denn ich schreibe diese Worte zwar, verstehe sie aber selbst kaum –, bis er ihr also versprach, dass die Fotografie, die von
den drei Mädchen in einem Atelier gemacht werden sollte, im Hintergrund die Burgruine zeigen würde und nicht den Tisch, auf dem eine Blumenvase stand.
    Mein Sohn, der sich anfangs noch Mühe gegeben hatte, ernst zu bleiben, gluckste bald wie ein gekitzeltes Baby, bevor er rief: »Ja.« Als Miss May davongeeilt war, um jemand anderes zu ärgern, und alles wieder so ruhig wurde, wie es in diesem lärmenden Haushalt nur sein konnte, hatte mein Sohn endlich Zeit, bedächtig das Ende meiner Geschichte zu lesen. Hier nun, geneigter Leser, findest du genau die Worte, die mein Sohn an jenem Tag las:
    Und so verließ unsere July das Herrenhaus auf Amity, das versperrt und vernagelt war, bis der nächste Eigentümer eintreffen würde. Sie packte ihre Habe in ein Stoffbündel und ging in die Stadt. Und dort mietete sie sich einen hübschen Laden. O ja. Das war keine Bruchbude am Straßenrand wie die, in der Miss Clara einst ihre Waren hatte feilbieten müssen. Die Tür zu Julys Laden

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