Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen

Titel: Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
Vom Netzwerk:
wandernden Zauberer vor; er ging durch die Straßen und machte sich mit lauter Stimme erbötig, »eure Nerven ein wenig zu kitzeln, eure Träume ein ganz klein wenig zu stören und wieder weiterzuziehen – und all das für ein Abendessen!« Nur an wenigen Orten lud man ihn nicht ein, über Nacht zu bleiben und seine schöne weiße Stute in einen Stall zu bringen. Und bevor die Kinder zu Bett gingen, gab er dann auf dem Marktplatz bei Laternenlicht eine Vorstellung. Er versuchte sich nie an größerer Zauberei. Er begnügte sich damit, Puppen zum Sprechen zu bringen und Seife in Süßigkeiten zu verwandeln, und manchmal misslang ihm sogar diese simple Taschenspielerei. Aber die Kinder hatten ihn gern, und ihre Eltern waren freizügig mit Essen, und die Sommernächte waren lind und lau. Noch viele, viele Jahre später erinnerte sich das Einhorn an den seltsamen Kakaogeruch der Ställe und an den Schatten Schmendricks, der in dem zuckenden Licht auf Türen, Wänden und Kaminen tanzte.
    Am Morgen machten sie sich wieder auf den Weg; Schmendricks Taschen waren mit Brot, Käse und Orangen gefüllt, und das Einhorn schritt neben ihm, meerweiß in der Sonne, meergrün im Baumdunkel. Seine Zaubertricks waren vergessen, ehe er außer Sicht war, seine weiße Stute jedoch störte den Schlaf vieler Menschen, und manche Frauen wachten weinend auf, weil sie von ihr geträumt hatten.
    Eines Abends kehrten die beiden in einer behäbigen kleinen Stadt ein, in der sogar die Bettler Doppelkinne hatten und die Mäuse watschelten. Schmendrick wurde sogleich vom Bürgermeister und einigen der wohlbeleibten Ratsherren zum Essen eingeladen; das Einhorn ließ man – unerkannt wie immer – auf einer Weide laufen, wo Gras wuchs so süß wie Milch. Die Nacht war warm, und man trug das Essen auf dem Marktplatz auf; dem Bürgermeister machte es Freude, seine Gäste vorzuführen. Das Essen schmeckte ausgezeichnet.
    Während des Essens erzählte Schmendrick Geschichten aus seinem Leben als umherziehender Zauberkünstler, reicherte es mit Königen und Drachen an und edlen Damen. Er log keineswegs, sondern ordnete lediglich die Ereignisse sinnvoll an, wodurch seine Erzählungen selbst den schlauen Ratsherren fast glaubhaft erschienen. Alle möglichen Leute, die zufällig durch die Straßen gingen, drängten näher, um das Wesen der Zauberformel zu verstehen, die, bei richtiger Anwendung, alle Schlösser öffnete. Und keinen gab es, dessen Atem nicht gestockt hätte beim Anblick der Narben an des Zauberers Händen. »Ein Andenken an meine Begegnung mit einer Harpyie«, erläuterte Schmendrick gelassen. »Sie beißen.«
    »Und hast du dich niemals gefürchtet?«, fragte leise ein junges Mädchen. Der Bürgermeister räusperte sich, um es zum Schweigen zu bringen, Schmendrick jedoch brannte eine Zigarre an und lächelte es durch den Rauch hindurch an. »Furcht und Hunger haben mich jung gehalten«, antwortete er. Er sah sich in dem Kreis der dösenden oder schnarchenden Ratsherrn um und zwinkerte dem Mädchen ganz offen zu.
    Der Bürgermeister war nicht gekränkt. »Es stimmt«, seufzte er und liebkoste den genossenen Abendschmaus mit gefalteten Händen. »Wir führen hier ein angenehmes Leben, oder ich versteh nichts von einem guten Leben. Manchmal denke ich, ein bisschen Hunger, ein bisschen Furcht täten uns gut, schärften sozusagen unsre Seelen. Aus diesem Grunde heißen wir alle Fremden bei uns willkommen, die Geschichten erzählen und Lieder singen. Sie erweitern unseren Horizont… kehren unseren Blick nach innen…« Er gähnte, streckte und reckte sich rülpsend.
    Plötzlich rief einer der Ratsherrn: »Meine Güte, seht doch mal zur Weide hinüber!« Schwere Köpfe auf speckigen Nacken drehten sich, und alle sahen, dass sich die Kühe, Schafe und Pferde am Ende des Angers zusammengeschart hatten und die weiße Stute des Zauberers anstarrten, die friedlich kühles Gras rupfte. Keines der Tiere gab einen Laut von sich, selbst die Gänse und Schweine waren so stumm wie Fische. In der Ferne schrie eine Krähe, ihr Ruf trieb über den Sonnenuntergang wie eine Aschenflocke.
    »Sonderbar«, murmelte der Bürgermeister. »Sehr sonderbar.«
    »Nicht wahr«, pflichtet ihm Schmendrick bei. »Wenn ich dir ein paar der Angebote, die man mir für sie schon gemacht hat…«
    »Das Auffallende daran ist«, sagte der Ratsherr, der als Erster gesprochen hatte, »dass sie anscheinend keine Angst vor ihr haben. Sie staunen sie geradezu ehrfürchtig an, als

Weitere Kostenlose Bücher