Das Letzte Protokoll
geschlagen.
Eins, zwei, drei Schritte ins Dunkel hinein, und man sieht sie. Zwei Skelette. Eins liegt seitlich zusammengerollt auf dem B o den. Das andere sitzt an die Wand g e lehnt. Ihre Knochen sind mit Schimmel und Moos überzogen. Die Wände glitzern von rinnendem Wasser. Die Skelette sind Mistys Skelette, die Fra u en, die sie früher einmal war.
Was Misty gelernt hat, ist, dass Schmerz und Panik und Entse t zen nur ein paar Minuten dauern.
Was Misty gelernt hat ist, dass ihr das Sterben sterbenslangwe i lig geworden ist.
Nur um das festzuhalten: Deine Frau weiß, dass es Bluff war, als du geschrieben hast, du würdest dir alle diese Zahnbürsten in den Arsch stecken. Du hast bloß versucht, die Leute in die Wir k lichkeit zurückzuscheuchen. Du hast nur gewollt, dass sie aus ihrem persönlichen Koma au f wachen.
Misty schreibt das hier nicht mehr für dich, Peter.
Es gibt keinen Ort auf der Insel, wo sie ihre Geschichte so ve r stecken kann, dass nur sie sie wiederfindet. Ihr zukün f tiges Ich in hundert Jahren. Ihre eigene kleine Zeitkapsel. Die eigene persö n liche Zeitbombe. Die Bewohner von Waytansea werden jeden Quadratzentimeter ihrer sch ö nen Insel umgraben. Sie werden auf der Suche nach Mistys Geheimnis ihr Hotel abreißen. Sie h a ben ein Jah r hundert lang Zeit zum Graben und Niederreißen und Suchen, ehe sie wiederkommt. Bis man sie z u rückholt. Und dann wird es zu spät sein.
Alles, was wir tun, verrät uns. Unsere Kunst. Unsere Kinder.
Aber wir sind hier. Wir sind immer noch hier. Der armen dummen Misty Marie Wilmot bleibt nur eines: Sie muss ihre G e schic h te vor aller Augen verstecken. Irgendwo auf der Welt.
Was sie gelernt hat, ist das, was sie jedes Mal lernt. P l aton ha t te Recht. Wir alle sind unsterblich. Selbst wenn wir wollten, kön n ten wir nicht sterben.
Jeden Tag ihres Lebens, jede Minute ihres Lebens: wenn sie sich nur daran erinnern könnte.
10. September
1445 Bayside Drive
Tecumseh Lake, GA 30613
Chuck Palahniuk
c/o Doubleday
1745 Broadway
New York, NY10019
Sehr geehrter Mr. Palahniuk ,
ich nehme an, Sie bekommen sehr viele Briefe. Ich habe noch nie einem Autor geschrieben, aber ich möchte Ihnen die Gel e genheit geben, das beiliegende Manuskript zu lesen.
Den größten Teil davon habe ich diesen Sommer g e schrieben. Wenn es Ihnen gefällt, geben Sie es bitte an Ihren Lektor Lars Li n digkeit weiter.
An Geld ist mir wirklich nichts gelegen. Ich möchte nur, dass das Buch veröffentlicht und von möglichst vielen Leuten gel e sen wird. Vielleicht kann es wenigstens einer Person Aufklärung verscha f fen.
Ich hege die Hoffnung, dass das Buch über Generationen hi n weg gelesen und den Menschen im Gedächtnis bleiben wird. Es soll von der nächsten und der übernächsten G e neration gelesen we r den. Vielleicht wird es in hundert Jahren von einem kleinen Mädchen gelesen, einem Mädchen, das die A u gen schließt und einen Ort vor sich sieht - sehr deutlich sieht -, und an diesem Ort gibt es funkelnden Schmuck und Rosengärten, und vielleicht wird sie de n ken, dass diese Dinge sie retten könnten.
Irgendwo und irgendwann wird dieses Mädchen, diese Kle i ne, einen Bleistift nehmen und ein Haus zeichnen, das sie noch nie gesehen hat. Ich hoffe, diese Geschichte wird ihr Leben verä n dern. Ich hoffe, diese Geschichte wird sie retten - dieses kle i ne Mädchen -, wie auch immer sie beim nächsten Mal heißen wird.
Mit freundlichen Grüßen
Nora Adams
Anlage: ein Manuskript
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