Das letzte Zeichen (German Edition)
dir Besitz ergreift, lässt es dich nie wieder los … Für die anderen war das alles so einfach, so klar, aber Evie empfand die Regeln wie eine Zwangsjacke, die ihren Geist und ihren Körper in eine unnatürliche Haltung zwang. Und sie konnte sich das nur damit erklären, dass das Böse bereits von ihr Besitz ergriffen hatte, und dass das Böse in ihr die Regeln ablehnte, obwohl sie doch zu ihrem eigenen Schutz und zum Schutz aller aufgestellt worden waren.
Verzagt legte sie den Löffel hin und schob die Schale von sich. Ihre Mutter warf ihr einen langen, eindringlichen Blick zu und meinte schließlich mit einem Achselzucken: »Du gehst jetzt besser los, damit du nicht zu spät zur Arbeit kommst.«
Evie schlich aus der Küche, putzte sich die Zähne und zog einen dünnen Mantel über. Wie immer ging sie zu Fuß zur Arbeit. Sie würde noch härter arbeiten, nahm sie sich vor und schritt energisch aus. Zerstörerische Gedanken würde sie nicht mehr zulassen. Sie würde ein besserer Mensch werden. Sie würde die Regeln der Stadt befolgen, auch wenn sie sich davon gegängelt fühlte. Sie würde sich danach richten, gerade weil sie einengend waren, weil sie das Böse in sich bekämpfen, ein für alle Mal ausmerzen musste. Weil die Stadt das Einzige war, was sie vor der Selbstzerstörung bewahrte, vor dem Bösen, das diese zerbrechliche Gemeinschaft und alle ihre Bewohner zu vernichten trachtete.
Evie und alle anderen lebten in dieser Stadt – jedenfalls die Guten. Die hohen Mauern schützten sie vor den Bösen, die draußen auf Raubzug gingen, die sie alle umbringen und die Welt in Angst und Schrecken versetzen wollten, wie sie es auch vorher schon getan hatten.
Es waren die Bösen gewesen oder deren Vorfahren, die vor Jahren die Welt fast zerstört hatten. Die die Schreckenszeit entfesselt hatten. Bevor die Stadt entstand, war die Welt voll von Bösen gewesen, von Menschen ohne jede Liebe und Güte. Nicht alle Menschen waren dazu bestimmt, böse zu sein; nur einige waren gefühllos durch ihre verdrehten Gehirne, eigennützig oder gewalttätig. Andere wiederum ließen sich leicht beeinflussen, und die Geisteskranken waren sehr überzeugend, krempelten deren Verstand um und brachten sie dazu, schreckliche Dinge zu tun, während sie dachten, sie wären gut.
Die Schreckenszeit hatte als kleiner Kampf begonnen, sich dann aber zu einem gewaltigen Krieg ausgeweitet, der jahrelang getobt hatte. Millionen Menschen waren auf schreckliche Weise umgekommen, nur weil man sich nicht hatte einigen können. Ein Gutes jedoch war aus dem Schrecken entstanden: die Stadt. Wie Phönix aus der Asche, bemerkte der Große Anführer in seinen Betrachtungen. Außerhalb der Stadtmauer herrschte aber noch immer das Böse, und die Menschen lebten in einem ständigen Kampf um alles – Nahrung und Unterschlupf. Dort gab es keine Ordnung, keine Zivilisation. Dort gab es keinen Frieden.
Aber Evie brauchte sich keine Sorgen um die Welt dort draußen zu machen, weil sie zu den Glücklichen gehörte, die innerhalb der Stadtmauer lebte.
Die Stadt war der einzige gute, sichere Ort auf der Welt und deshalb stand er ständig unter Belagerung. Deshalb durften die Bürger nie vergessen, wie privilegiert sie waren, und mussten alles tun für die Sicherheit der Stadt. Sie mussten tugendhaft leben, um den Schutz der Stadt zu verdienen.
Denn schon ein einziger fauliger Apfel konnte den ganzen Korb verderben.
Der Weg zur Arbeit führte an einer langen breiten Straße entlang. Vor der Schreckenszeit war dies der Finanzdistrikt der Stadt London gewesen. Hier war das Böse gediehen und alles hatte sich einzig und allein um das Anhäufen und Vermehren von Geld gedreht.
In der Stadt gab es kein Geld mehr; die Arbeiter bekamen Wertmarken für alles, was sie brauchten.
Das Geld und seine Diener waren verschwunden, aber die Straße war geblieben, samt einigen Gebäuden. Auch das Krankenhaus gehörte dazu, aber nun diente es dem Großen Anführer als Hauptquartier. Dorthin war er in den letzten Stunden der Schreckenszeit geflohen, und dort hatte er andere davon überzeugt, sich ihm anzuschließen, an ihn zu glauben und nach einer anderen Lebensform zu suchen. Nach einem guten, friedlichen Leben.
Der Regierungsblock Nummer 3, in dem Evie beschäftigt war, gliederte sich in fünf Abteilungen: Technik, Archiv, Rangänderung, Aufklärung und Forschung. Evie gehörte zur Abteilung 3 für Rangänderung und arbeitete in einem stickigen Großraumbüro in einem neu
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