Das letzte Zeichen (German Edition)
Wirkung gehabt hatte. Dabei waren diese Zusammenkünfte keineswegs zwanglos; mindestens ein Elternpaar war immer dabei. Eines Tages jedenfalls war Lucas zu Besuch gekommen, und Evie vermutete, dass ihr Vater – wohl unter dem Einfluss der Mutter – im Hintergrund die Strippen gezogen hatte. Eine Verbindung mit Lucas war jedenfalls mehr, als sie zu hoffen gewagt hatten. Evie fragte sich, ob sie oder ihre Eltern überraschter gewesen waren, als Lucas die Verbindung besiegelt und um ihre Hand angehalten hatte. Doch auch danach sprach er kaum mit ihr, und es kam ihr fast so vor, als würde das alles jemand anderem passieren.
Manchmal wünschte Evie sich das sogar.
Aber nur wenn sie die bösen Gedanken in ihren Kopf hineinließ. So etwas auch nur zu denken, war schon unverzeihlich.
Warum konnte sie nicht dankbar sein für das, was sie hatte, wie alle anderen auch? Die Antwort lag auf der Hand: weil ihre Mutter recht hatte. Weil sie der faulige Apfel im Korb war.
»Morgen!« Christine, die bei der Arbeit neben ihr saß, war schon da und lächelte Evie an. »Und? Wie geht’s?«
»Wirklich gut. Und dir?«
»Super!« Christine lächelte und blickte wieder auf ihren Computerbildschirm.
Christine war für Evie am ehesten das, was man eine Freundin nennen konnte. Sie redeten allerdings nicht viel miteinander – ein paar Worte am Wochenanfang, ein Lächeln am Morgen. Das lag nicht daran, dass Evie keine Freunde haben wollte. Sie fand es nur so schwierig, Freundschaften zu schließen, wo sie doch den Kopf voller Geheimnisse und Sehnsüchte hatte und niemals davon erzählen konnte, niemandem. Und jetzt wo sie arbeiteten, war dazu ohnehin praktisch keine Gelegenheit mehr. Unterhaltungen während der Arbeitszeit wurden nicht gern gesehen, und nach Dienstschluss mussten sie beide nach Hause, um ihren Müttern zu helfen, um sich mit dem zukünftigen Partner zu treffen, oder, wie Christine, mit einem Kandidaten, der ihren Eltern annehmbar erschien. Da hatte Evie es einfacher gefunden, überhaupt nichts zu erzählen, unauffällig und verschlossen zu bleiben. Das war nicht schwer. Aus Freundschaften entstanden nur allzu leicht Verpflichtungen, die dem Wohl der Stadt zuwiderliefen. Freundschaften konnten sehr schnell unangenehm werden, wenn sich etwas änderte. Der Rang beispielsweise.
Auf dem Weg zu ihrem Schreibtisch im Großraumbüro nahm Evie vorn zehn Akten vom Tisch der Aufseherin. Immer zehn auf einmal; waren diese bearbeitet, dann kamen die nächsten zehn, bis keine Akten mehr da waren – oder bis die Arbeitszeit um war. So sagten jedenfalls die Abteilungsleiter, aber meist war der Tag um, bevor die Akten ausgingen, und meist arbeiteten sie alle etwas länger, bis das Pensum geschafft war.
Das Regierungsgebäude, in dem Evie arbeitete, hieß bei allen nur das Systemgebäude; das System regelte alles innerhalb der Stadtmauern und erhielt die Ordnung aufrecht.
Evie arbeitete als Rangwechslerin; es war ihre erste Arbeitsstelle, und seit dem Schulabschluss war sie nun drei Jahre hier. Ihre Lehrerin hatte ihnen damals in der Schule alle möglichen Berufe und Ausbildungsmöglichkeiten vorgestellt: Schneider, Schreiner, Gärtner, Bauer, Bauarbeiter, Techniker, Elektriker … die Liste war endlos, und viele Beschäftigungen waren verlockend für sie gewesen. Gärtnerin beispielsweise – tagtäglich die Hände in der Erde, um aus kleinen Samen Nahrung entstehen zu lassen, die Frucht bis zur Ernte zu pflegen.
Evies Mutter war Näherin; hätte Evie sich für diese Ausbildung entschieden, dann wäre sie bei ihrer Mutter in die Lehre gegangen, hätte sich mit Nadeln gepiekst und mit ihren ungeschickten Fingern vergeblich versucht, die feinen Muster zu kopieren, die ihrer Mutter so trefflich gelangen. Eigentlich stand einem die Berufswahl frei, aber Töchter folgten den Müttern, Söhne den Vätern im Beruf. So war es üblich. Es sei denn, man war sehr gut in der Schule. Es sei denn, man war so gut, dass man eine Stelle bei der Stadt bekam.
Und so hatte Evie sich für einen Verwaltungsjob in einem Büro entschieden. So etwas wurde als großer Erfolg angesehen, denn dazu musste man alle möglichen Tests und Befragungen überstehen. Doch noch wichtiger für Evie war, dass ihre Mutter daraufhin den Plan aufgab, eine Näherin aus ihr zu machen, und nicht mehr dachte, dass Evie die Familie irgendwie im Stich gelassen hatte. Und war sie erst einmal verheiratet, dann konnten ihre Eltern sich beruhigt zurücklehnen.
Sie hatten ihre
Weitere Kostenlose Bücher