Das Licht, das toetet
gebraucht, Ian.“ Dr. Stratton lächelte ihn an.
„Haben Sie uns erwartet?“ Ian war verwirrt. Hatte die Sprechstundenhilfe sie angerufen, nachdem sie in der Praxis gewesen waren? Oder was meinte sie?
Mit gerunzelter Stirn betrachtete er die Frau mit den perfekt lackierten roten Fingernägeln, dem geblümten Sommerkleid und dem großen Strohhut. Obwohl sie schon über fünfzig sein musste, sahen ihre Arme straff und muskulös aus. Dr. Stratton wirkte nicht nur schlank, sondern geradezu durchtrainiert. Vermutlich weil sie jahrelang für das Militär gearbeitet hat, überlegte Ian. Ihre grünen Augen waren außergewöhnlich hell und verliehen ihrem Gesicht einen aufgeweckten Eindruck. Um den Hals trug sie eine feingliedrige Perlenkette, die ihr Dekollete mit den vielen Sommersprossen zur Geltung brachte.
Für gewöhnlich achtete Ian bei Frauen, die seine Oma sein könnten, nicht aufs Aussehen. Doch er musste zugeben, dass Amy Stratton schön war. Nicht niedlich, makellos hübsch wie ein Pin-up-Girl oder wie diese ganzen austauschbaren Shampoo-Beautys. Nein, sie besaß eine reife Schönheit, die durch ihre Augen ihr ganzes Gesicht erstrahlen ließ.
„Seit über zehn Jahren warte ich auf dich“, sagte sie und lächelte. „Du siehst ihm sehr ähnlich.“ Sie schaute ihn freundlich an. „Ich dachte nur, du würdest früher kommen.“
Da Ian noch immer sprachlos war, zog Bpm zwei Korbstühle an den Tisch und sprang für ihn ein.
„Gut.“ Er räusperte sich. „Dann sollten wir mit dem Smalltalk aufhören. Wir sehen beschissen aus, das wissen wir selbst. Warum haben Sie auf Ian gewartet? Und woher kennen Sie seinen Namen? Hat Ihnen Nick Waterspoon von ihm erzählt?“ Er gab Ian ein Zeichen, die Krankenakte auf den Tisch zu legen.
Mit feuchter Hand griff Ian in seinen Rucksack und suchte die Papiere zusammen. Es war auf einmal unangenehm heiß in der Sonne.
„Da hast du deine Antwort“, entgegnete Dr. Stratton lächelnd mit Blick auf die Krankenakte.
„Thomas hat mir viel über dich erzählt, Ian.“ Nachdenklich rührte sie in ihrem Eiskaffee.
„Sie kannten den Namen meines Vaters? Ich meine, den richtigen?“
Amy Stratton nickte.
Ian starrte sie an, bis sie die Augenbrauen hob. Verlegen wandte er seinen Blick ab und schaute zum Fluss. Unter den lauten Rufen des Steuermanns zog ein Ruderachter auf der Cam vorbei. Gleichmäßig schnitten die Ruder durch die leicht gekräuselte Wasserfläche und Ian konnte die Studenten lachen hören, während sie sich in die Riemen legten.
„Nick Waterspoon ist also tatsächlich Thomas Boroughs?“, hakte Bpm nach. „Das können Sie bestätigen?“
Amy Stratton nickte. „Thomas war ein außergewöhnlicher Mensch. Er war äußerst aufmerksam und einfühlsam, litt jedoch unter starken Schüben von Paranoia.“
„Er sah Wesen.“ Ian beobachtete ihre Reaktion, doch nichts in ihren Zügen verriet Erstaunen oder Entsetzen. „Haben Sie deswegen auf mich gewartet?“
„Nun, da ihr …“, sie hob die Akte kurz an, „… gute 320 Seiten Untersuchungsprotokolle habt, denke ich, dass wir die ärztliche Schweigepflicht außer Acht lassen können.“ Sie seufzte. „Ja, er hatte Visionen. Er glaubte, diese Wesen würden ihn verfolgen und alles verbrennen. Er nannte sie Feuerengel.“
Sie schob ihren Eiskaffee beiseite, blätterte in der Akte und legte sie mit einem Blick zurück, der ein wenig zu wehmütig war. Ian fand, dass ihre Hand eine Minute zu lang auf dem abgegriffenen Deckel ruhte. Ganz so, wie man ein Fotoalbum voller Erinnerungen liebkost.
„Sie hatten ein Verhältnis mit ihm“, stellte er nüchtern fest. „Deswegen war er so oft auf dem Stützpunkt bei Ihnen, auch wenn Sie ihn nicht therapieren konnten.“ Während er sprach, hatte sie reflexartig ihre Hand zurückgezogen. Ian blickte ihr in die Augen. Sie schien sich ertappt zu fühlen und nicht zu wissen, ob sie ihm die Wahrheit sagen sollte.
„Was hat mein Vater Ihnen noch alles über mich und meine Mutter erzählt? War er glücklicher mit Ihnen als mit uns? Hat er uns deswegen jahrelang angelogen?“ Er hörte selbst, wie seine Stimme lauter und aufgebrachter wurde. Nahmen denn diese Lügen nie ein Ende?
Einige der Gäste drehten sich zu ihnen um, aber Ian scherte sich nicht darum.
„Ian, bitte …“ Seufzend rieb sich Dr. Stratton die Stirn. „Vielleicht ist es besser“, murmelte sie, „du fährst einfach wieder nach Hause.“
„Mein Vater hat ein Doppelleben geführt und mich und
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