Das Licht Von Atlantis
ironischer Gedanke schoss ihr durch den Kopf: Sie besaß Macht über den Schmerz anderer, aber sie konnte sich nicht selbst davor retten. Von Menschen gemachte Gesetze durfte sie aufheben, fast völlig nach eigenem Ermessen, aber ein Naturgesetz vermochte sie nicht zu ihrem eigenen Vorteil außer Kraft zu setzen.
Deoris' kleine Hände trugen rote Male, als Domaris sie endlich losließ. Die ältere Schwester hob sie reuevoll an ihre Lippen und küsste sie. »Verlange ich zuviel von dir, Kätzchen?«
Deoris schüttelte benommen den Kopf. Sie konnte Domaris keine Bitte abschlagen - aber in ihrem Herzen wünschte sie, die Schwester hätte ihr das nicht zugemutet und hätte nicht die Macht, die Tempelvorschriften außer Kraft zu setzen. Sie fühlte sich verloren, zu jung, noch nicht in der Lage, eine solche Verantwortung zu übernehmen.
Karahama ging, empört über die beharrliche Zurückweisung ihrer Person wie ihrer Autorität. Domaris' Freude darüber war nur von kurzer Dauer, denn wenige Minuten später kehrte Karahama mit zwei Novizen-Schülerinnen zurück.
Domaris richtete sich auf, das Gesicht grau vor Wut. »Das ist unerträglich!« protestierte sie, und ihr Zorn vertrieb für einen Augenblick den Schmerz. Tempelfrauen blieb es gewöhnlich erspart, Anschauungsobjekt für den Unterricht zu sein. Und Domaris hatte als Priesterin des Lichts das Recht, ihre Pflegerinnen selbst zu wählen. Ganz bestimmt würde sie sich eine solche Erniedrigung nicht gefallen lassen!
Karahama schenkte ihr nicht die geringste Aufmerksamkeit, sondern fuhr ruhig in ihren Erklärungen fort. Sie wies ihre Schülerinnen darauf hin, dass Frauen in den Wehen auf seltsame Gedanken kommen können... Domaris ergab sich grollend. Sie war immer noch wütend, aber immer öfter traten Intervalle auf, in denen sie sich nicht auszudrücken vermochte - und es schien ihr wenig wirksam, ihrem Zorn in abgerissenen Satzfetzen Luft zu machen. Am demütigendsten war, dass sie bei jeder Wehe den Faden ihrer Schimpfrede verlor.
Karahama kostete ihre Rache jedoch nicht aus. Es dauerte nicht lange, und sie schloss ihren Vortrag und schickte ihre Schülerinnen hinaus.
Da nahm Domaris ihre ganze Kraft zusammen und befahl: »Du kannst auch gehen! Du hast selbst gesagt, ich müsse von Gleichrangigen betreut werden - also - verlasse mich!«
Das war eine beißende Vergeltung für die ihr angetane Demütigung. Zu einer wirklich Gleichrangigen und ohne Zeugen gesprochen, wäre es grausam und beleidigend genug gewesen. Unter den besonderen Umständen aber und Karahama gegenüber war es schlimmer als ein Tritt ins Gesicht.
Karahama richtete sich auf und wollte protestieren. Doch dann zwang sie ein Lächeln auf ihre Lippen und zuckte die Schulter. Deoris war eine gute Hebamme, und für Domaris bestand nicht die geringste Gefahr. Hätte Karahama sich mit ihr herumgestritten, hätte das ihrer Würde nur noch mehr Abbruch getan. »Es sei, wie du gesagt hast«, erklärte sie deshalb knapp und ging.
Domaris war sich klar darüber, dass sie den Buchstaben, aber nicht den Geist des Gesetzes verletzt hatte. Dennoch hätte sie beinahe Karahama zurückgerufen - wollte aber dann doch nicht auf Deoris verzichten. Domaris war nicht vollkommen; sie war in diesem Augenblick sehr menschlich und sehr wütend. Außerdem wurde sie von immer neuen Wehen gepackt, die ihren Körper in ein Dutzend verschiedene Richtungen zu zerreißen schienen. Sie vergaß Karahamas Existenz. »Micon!« jammerte sie, sich windend. »Micon!«
Deoris beugte sich rasch über sie, sprach tröstend auf sie ein, nahm sie in den Arm und brachte ihre nervösen Zuckungen mit einer geschickten Handbewegung zum Stillstand. »Micon wird kommen, wenn du es verlangst, Domaris«, sagte sie, als ihre Schwester sich ein bisschen gefasst hatte. »Möchtest du das?«
Domaris hielt sich krampfhaft am Bettzeug fest. Jetzt endlich verstand sie - es war nicht Gesetz, sondern nur ein Brauch -, warum eine Frau ihr Kind allein und ohne Wissen des Vaters gebären musste. »Nein«, flüsterte sie. »Nein, ich will mich beherrschen.« Micon sollte, ja durfte den Preis, den sie die Geburt seines Sohnes kostete, nicht erfahren! Wenn er in besserem Gesundheitszustand wäre... oh, Mutter Caratra! Ergeht es allen Frauen so?
Obwohl sie versuchte, sich auf die ausführlichen Anweisungen zu konzentrieren, die Deoris ihr gab, verlor sie sich immer wieder in qualvolle Erinnerungen. Micon , dachte sie, Micon! Er hat mehr als das erlitten!
Weitere Kostenlose Bücher