Das Lied des roten Todes
das Torhaus sehen, an dem vermutlich früher Kutschen angehalten haben, bevor sie die Gäste zu einem Ball gebracht haben. Jetzt lässt sich das Bauwerk nur noch an den zerfallenden Giebeln erkennen, da der Rest von den Schlingen und Ranken der Sumpfpflanzen eingehüllt ist. Zwei Steinsäulen mit Löwenköpfen stehen vor dem Torhaus. Eine ist umgestürzt und im trüben Wasser fast verschwunden. Um die andere kräuselt sich der Sumpf.
Vom Dach des Hauses hinter mir höre ich Geräusche; es wird gehämmert, und hin und wieder flucht jemand. Der Wind hat uns weit von unserem Kurs abgebracht, aber Kent hat schließlich das Steuerruder immerhin lange genug im Griff gehabt, um das Schiff auf dieses Dach runterzubringen. Ansonsten wären wir im Sumpf gelandet. Er und Elliott sind jetzt vollauf damit beschäftigt, das Schiff zu reparieren. Wir sind seit zwei Tagen hier, und den größten Teil der Zeit habe ich geschlafen. Will hat sein Bestes getan, aber er ist kein Arzt, und die Wunde auf meinem Rücken brennt. Jede Bewegung zieht an der sorgfältigen Naht, mit der er sie geschlossen hat.
Es ist uns gelungen, aus der Stadt rauszukommen, aber wir werden nicht so leicht wieder zurückkehren können, wie wir gedacht haben. Wir sitzen auf dem Dach dieses sinkenden Hauses fest, eine von Menschenhand geschaffene verfallende Insel im Sumpf. Gestern konnte ich noch Rauch aus der Stadt aufsteigen sehen, aber heute befindet sich überall um uns herum nichts als grünes Wasser, Büschel aus Sumpfgras und ein paar Bäume. Es sieht ruhig aus, aber der Eindruck täuscht. Im Sumpf sind Raubtiere. Infizierte Menschen. Schlangen. Krokodile.
Ich beschatte meine Augen mit der linken Hand, um meine verletzte Schulter zu schonen, und beobachte, wie Insekten auf der Oberfläche von flachen Tümpeln landen und Reptilien hin und her huschen. Obwohl wir von der Zivilisation einige Tagesmärsche entfernt sind, können Kent und Elliott nicht mit Gewissheit sagen, ob dieses Haus auch sicher vor Malcontent und seinen Sumpfbewohnern ist. Der Mann, der Will und seine Geschwister die Leiter des Luftschiffs hinauf verfolgt hat, während wir abgehoben haben, ist jetzt unser Gefangener. Er war einer von Malcontents Soldaten, und von ihm haben wir mehr über Malcontents alptraumhaften Plan erfahren, die Seuche in der ganzen Stadt zu verbreiten.
Jetzt fegt also der Rote Tod durch die Stadt, eine neue Seuche, die noch viel schneller tötet als die ursprüngliche. Ich rücke meine Maske zurecht, taste mit dem Daumen über den Sprung an der Innenseite. Wir müssen das Schiff reparieren, und zwar schnell. Wir sind hier in Gefahr und können nichts tun, um den Zustand der Stadt zu verbessern. Da ich sonst nicht viel tun kann, habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, nach allem Ausschau zu halten, was ungewöhnlich ist. Nach allem, was bedrohlich ist.
Aber meine Umgebung zu beobachten reicht nicht, um den Refrain in meinem Kopf zum Schweigen zu bringen. Mein Vater ist ein Mörder. Mein Vater ist möglicherweise ein Mörder. Ich muss die Wahrheit wissen.
Als ich fünf Jahre alt war, habe ich auf den Schultern meines Vaters gesessen und einer Parade zugeschaut. Mutter hat auf meinen Zwillingsbruder Finn aufgepasst, der zu Hause war, um sich von irgendeiner Krankheit zu erholen, deswegen waren wir zwei allein. Als Vater mich über die Menge gehoben hat, habe ich mich absolut sicher gefühlt. Als er mich auf seine Schulter gehoben hat, habe ich ein bisschen gewackelt und in seine Haare gegriffen, um mich festzuhalten. Obwohl er zusammengezuckt ist, hat er seine Hände weiter auf meinen Knien gelassen.
Kinder säumten den Weg, den die Parade nahm, und niemand von uns hat eine Maske getragen. Wir hatten keine Angst vor der Menge, es gab keinerlei Grund zu befürchten, dass sich eine Seuche von Mensch zu Mensch ausbreiten könnte. In dieser lang vergangenen Welt war ich sicher, weil mein Vater bei mir war.
Die Leute blickten erwartungsvoll auf die Straßen, dicht aneinandergedrängt und sich nach vorn beugend, um besser sehen zu können. Jetzt entsetzt mich die Vorstellung so vieler gleichzeitig ausatmender Menschen. Es kommt mir so vor, als würde die Erinnerung jemand anders gehören, als wäre sie weniger wirklich als die Träume, die die Leere füllen, wenn meine Gedanken verblassen … dunkle Träume von Mord und Tod. Nur eine Person kann diesen niemals endenden Zweifel vertreiben. Ich muss meinen Vater finden.
Das Hämmern hat aufgehört. Ich halte mich an der
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