0228 - Der Leichenpfad
Gespenstisch fahl war der Schein, der Himmel erleuchtete. Auch im Dorf hatte es gebrannt. Vielleicht war es eine verirrte Bombe gewesen, die das Dorf traf. Auf jeden Fall hatte sie eine verheerende Wirkung gehabt. Die Menschen hatten die Köpfe gesenkt. Nur ihr verzweifeltes Schluchzen war zu hören. Kein Licht brannte in dieser Nacht, man wollte nicht auf sich aufmerksam machen. März 1945. Bisher war das kleine Eifeldorf verschon geblieben, nun aber dieser Volltreffer, der die Schrecken des Krieges gebracht hatte, die man sonst nur von den Wochenschauen aus den Kinos kannte.
Jemand kam.
Es waren zögernde Schritte, die sich näherten. Man merkte dem Mann an, wie schwer es ihm fiel, näher zukommen. Schließlich stand er neben dem Wagen, auf dem die Toten lagen.
Die anderen hatten die Köpfe gesenkt, als sie den Neuankömmling erkannten. Es war der Pfarrer, der die Hände faltete und ein Gebet sprach, während es in seinen Augen feucht schimmerte.
Er wußte schon nicht mehr, was er den Menschen noch sagen sollte. In dieser Zeit von einem Trost zu sprechen, war schon fast paradox. Doch einen Gegenvorschlag hatte auch niemand.
Je länger der Pfarrer sprach, um so lauter wurde auch seine Stimme. Plötzlich hatte er wieder Hoffnung. Er fand sie in den Textzeilen des Gebets, und irgendwie schaffte er es, die anderen anzustecken. Auch sie falteten die Hände, schlugen verstohlen das Kreuzzeichen und begannen ebenfalls zu beten.
Die kleine Gemeinde fand sich. Sie wurde zu einer Insel inmitten des Krieges, und die Kraft des einen strömte auf den anderen über.
»Und nun laßt uns die Toten begraben, damit sie in Gottes Frieden ruhen für alle Ewigkeiten«, sagte der Pfarrer zum Schluß.
Nach seinen Worten entstand eine Pause. Der Wind jaulte über die Hochfläche und spielte mit den Haaren der Menschen.
Niemand wollte so recht etwas sagen, bis der Pfarrer fragte:
»Was ist los? Weshalb rührt sich keiner?«
»Wir haben keinen Friedhof«, sagte einer schließlich.
»Aber im Nachbarort.«
»Dann müssen wir über den Leichenpfad gehen«, kommentierte ein anderer.
»Was ist daran so schlimm?« fragte der Pfarrer.
»Die Weiße Frau.«
»Das sind doch Ammenmärchen.«
»Nein, Herr Pfarrer. Keine. Wer die Weiße Frau sieht, ist des Todes. Sie kommt aus der Erde, und die Menschen, die die Weiße Frau gesehen haben, können sich nicht mehr bewegen. Ehrlich, sie sterben an einem Herzschlag oder so.«
»Sie haben die Weiße Frau gesehen?«
»Nein, dann wäre ich ja nicht hier.«
Der Pfarrer schüttelte den Kopf. »Ich kenne die Geschichte der Weißen Frau und des Totenpfads, allerdings hätte ich nicht gedacht, daß ihr so fest daran glaubt. Das ist für mich eine Überraschung, aber keine angenehme.«
»Wir wollen warten«, sagte der erste Sprecher.
Der Pfarrer drehte sich zu ihm um und sah einen großen, knochigen Kerl vor sich, der sogar Bäume ausreißen konnte, aber jetzt eine hündische Angst zeigte. Der Mann hätte eigentlich an der Front sein müssen, er war abgehauen, hatte desertiert und in seinem Heimatdorf Unterschlupf gefunden. Bei einer Tante hatte er sich verkrochen.
»Hör zu, Göpfert«, sagte der Pfarrer. »Ich mische mich nicht gern in deine Angelegenheiten, aber gerade du hättest allen Grund, uns dankbar zu sein. Oder nicht?«
Göpfert zuckte zusammen. »Ist ja schon gut.«
Der Pastor oder Herr Pfarrer, wie er immer genannt wurde, schüttelte den Kopf. »Wer geht mit mir den Pfad zum Friedhof?«
Keiner meldete sich.
»Wir können die Toten doch nicht liegenlassen«, beschwerte sich der Geistliche. Er schaute in die blassen, bleichen Gesichter der ihn umstehenden Menschen. »Dickköpfe«, flüsterte er, »verdammte Dickköpfe.« In diesem Augenblick dachte er wie Don Camillo. »Keiner also?«
Schweigen.
Der Pfarrer nickte. »Nun, dann werde ich ein Pferd holen lassen und es vor diesen Leichenwagen spannen:« Er schaute Göpfert an. »Du holst das Pferd, verstanden?«
»Ja, ja, Herr Pfarrer.« Göpfert war froh, den Blicken des Mannes schnell entgangen zu sein. Er fühlte sich unter ihnen immer seziert, wobei er das Gefühl hatte, daß der Pfarrer bis auf den Grund seiner Seele schauen konnte. Fast fluchtartig rannte Göpfert in das zerstörte Dorf, wo er hoffte, noch ein Tier auftreiben zu können.
Die anderen warteten. Eine beklemmende Stille hielt die Menschen umfangen. Ein jeder hatte schreckliche Angst, nur wollte es niemand zugeben. Die meisten hielten die Köpfe gesenkt und
Weitere Kostenlose Bücher