Das Missverstaendnis
Umbruchszeit zwischen zwei Jahrhunderten, hinein ins Fin de siècle einer gesegneten Epoche, in der es in Paris noch immer Männer gab, die nichts taten, in der man mit Eifer niederträchtig und voller Hochmut boshaft sein konnte, in der das Leben für die Mehrzahl der Menschen beschränkt und friedlich war wie ein Bach, dessen Quelle und weiteren Verlauf bis hin zur Mündung man immer ungefähr voraussehen konnte.
Yves war der Sohn eines Parisers aus edlem Geschlecht, dessen Dasein so geschäftig und so leer gewesen war wie das der meisten Männer seiner Kreise; doch er hatte zwei Leidenschaften gepflegt: Frauen und Pferde. Die einen wie die anderen hatten gleichartige Empfindungen von Rausch, verzweifelter Kopflosigkeit und Gefahr in ihm hervorgerufen. Da er Paris nie verlassen hatte, außer um nach Nizza oder Trouville zu den Rennen zu fahren, da er von der Welt nichts gesehen hatte außer den Boulevards, den Rennstätten und dem Bois de Boulogne, da er seine Blicke beschränkt hatte auf die Augen der Frauen, seine Wünsche auf ihre Münder, konnte er in der Stunde seines Todes, als der Priester ihm das ewige Leben in Aussicht stellte, die Antwort geben: »Aber wozu? Ich will nur ausruhen. Ich habe schon alles erlebt.«
Yves war achtzehn Jahre alt, als sein Vater starb. Er konnte sich gut an die sanften Hände dieses Mannes erinnern, an sein Lächeln voll Zärtlichkeit und leisem Spott, an den leichten verwirrenden Duft, der immer um ihn war, als hätten die Falten seiner Kleider den Duft all der Frauen bewahrt, die er liebkost hatte. Yves war ihm ähnlich; auch er hatte schöne Hände, wie gemacht für Müßiggang und Liebe, und er hatte dieselben klugen und klaren Augen; doch bei seinem Vater waren sie scharf gewesen, voll ungestümer Lebendigkeit, während sie bei ihm selbst manchmal trüb wirkten, voller Mattigkeit und Unbehagen und so unergründlich wie ein tiefer See …
Yves konnte sich auch noch gut an seine Mutter erinnern, obwohl er sie sehr früh verloren hatte; jeden Morgen hatte die Gouvernante ihn zu ihr gebracht, während sie frisiert wurde; sie trug leichte Morgengewänder, mit Flitter und Spitzen besetzt, und wenn sie sich bewegte, klang es wie das Flattern eines Vogels; er erinnerte sich sogar noch an ihre Mieder aus schwarzem Satin, die einen hübschen, zierlichen Körper umschlossen hatten, eine nach den Vorgaben der Mode geformte Silhouette, rotes Haar und rosige Haut.
Er hatte die glückliche Kindheit eines kleinen Jungen aus reichem Haus gehabt. Seine Eltern liebten ihn und sorgten sich um ihn, und da sie glaubten, das Leben zu kennen, das er einmal führen würde – ein freizügiges, luxuriöses und müßiges Leben –, bemühten sie sich, ihm schon früh jenen Sinn für Schönheit und Philosophie einzupflanzen, der das Dasein veredelt, und dazu den Geschmack an tausend subtilen Nichtigkeiten, die es durch Eleganz und Luxus verschönern und mit unvergleichlicher Anmut schmücken. Und Yves wuchs auf und lernte, die schönen Dinge zu lieben, Geld auszugeben, sich gut zu kleiden, ebenso wie zu reiten, zu fechten und – dank der diskreten Unterweisungen seines Vaters – die Frauen als das einzig lohnende Gut der Welt zu betrachten, die Wollust als eine Kunst und das Leben als eine hübsche und leichte Sache, aus der der Weise nur Freuden zu gewinnen versteht.
Mit achtzehn war Yves Waise und mit ausreichend Geld versehen, sein Unterricht war beendet. Die Trauer zwang ihm ein relativ einsames Leben auf, er langweilte sich und begann lustlos, sich auf die Prüfungen der geisteswissenschaftlichen Fakultät vorzubereiten, doch dann kam ihm die Idee zu reisen: Denn darin unterschied er sich von seinem Vater wie von der gesamten vorangegangenen Generation, daß das Universum für ihn nicht an der Avenue de l’Opéra aufhörte und der Pfad der Tugend nicht der einzig gangbare war; fremde Länder hatten schon immer leidenschaftliche Neugier in ihm geweckt, obwohl sein Vater seinen Wissensdrang mit einem verächtlichen Lächeln als »romantisch« zu bezeichnen pflegte. Yves verbrachte also mehrere Monate in England, träumte von einer Reise nach Japan, die er niemals antrat, besuchte einige alte, verlassene Dörfer in Deutschland, verlebte wunderbare Tage in Siena und ein ganzes Frühjahr in Spanien, dem Land, mit dem er seine schönsten Kindheitserinnerungen verband: Zusammen mit einer Gouvernante war er den Sommer über nach Hendaye geschickt worden, unweit der spanischen Grenze, in ein altes
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