Das Nebelhaus
früher?«
»Wenn’s drauf ankommt, schon. Aber es gibt noch mehr zwischen Himmel und Erde als Demos gegen Ungerechtigkeit. Ich kloppe mich nicht mehr. Ich bin Buddhistin geworden.«
Wieder suchte Leonie über den Rückspiegel den Kontakt zu Timo, aber diesmal wich er ihrem Blick aus.
Eine Weile sagte keiner etwas. Auch Yasmin, die seit der Abfahrt ohne Unterlass gequasselt hatte, blieb überraschend lange stumm. Dann sagte sie: »Mir ist ein bisschen übel. Bei hohen Geschwindigkeiten passiert mir das immer, ist ’ne Art Kinderkrankheit. Mein Vater hatte einen Porsche und … Kannst du bitte ein bisschen langsamer fahren, Leonie?«
»Wir müssen die Fähre nach Hiddensee bekommen.«
»Zufällig weiß ich, dass die letzte Fähre erst in drei Stunden abfährt. Hat mir ein Kumpel gesteckt.«
»Wir müssen ja nicht unbedingt die allerletzte Fähre nehmen. Mein Wagen ist ein Geschoss, ich habe lange darauf gespart.«
»Geschosse sind fürs Einschlagen gemacht.«
»Entspann dich.«
»Scheiße.«
»Ich habe alles im Griff.«
»Ich glaube, das waren die letzten Worte von James Dean.«
»Du riechst ein bisschen nach Whisky«, sagte Philipp, als sie am Anlegesteg auf die sich nähernde Fähre warteten.
»Und du nach billigem Rasierwasser«, erwiderte Vev. »So stinken wir also um die Wette.«
Seine Frau warf ihm ein Lächeln zu, das er auffing und ein bisschen widerstrebend zurückwarf. Solche kurzen, schwach giftigen Wortscharmützel lieferten sie sich oft, ohne dass es ihrer Beziehung schadete. Er hätte auch darauf verzichten können, aber er nahm Vevs gelegentlichen Sarkasmus in Kauf, denn ein einziger Blick auf sie machte ihn sofort stolz. Vev sah immer elegant aus, auch in einer alten Jeans mit einem ausgebeulten Pulli, und im kleinen Schwarzen sowieso. Sie war die dunkle Version einer gereiften Brigitte Bardot.
Philipp nahm Vev in den Arm. »Meine Frau sieht heute toll aus.«
Vev blickte sich um. »Ehrlich? Oh Gott, wo ist sie denn?«
Philipp lachte und legte den Arm um Vevs schmale Schultern. »Ganz nah«, sagte er.
»Die perfekte Architektengattin«, sagte sie mit so leiser Ironie in der Stimme, dass Philipp es überhörte. Dann vergewisserte sie sich, dass ihre kleine Tochter Clarissa nicht allzu weit entfernt spielte.
»Sag mal, hat Frau Nan die Gästezimmer hergerichtet?«, fragte Philipp.
»Ich bin mir nicht sicher.«
»Du hast es nicht kontrolliert?«
»Das hier ist Hiddensee, nicht Alcatraz. Wenn sie heute Morgen nicht fertig geworden ist, macht sie es nachher, während wir Kuchen essen. Oder ich packe schnell mit an.«
»Hast du ihr gesagt, dass sie heute Abend zum Kochen vorbeikommen soll?«
»Du meinst zusätzlich zu den sieben Mal, die du es ihr gesagt hast?«
»Ich will einen guten Eindruck machen. Wenn Leute einen nach so langer Zeit besuchen …«
»… möchte man zeigen, dass man sich eine Köchin leisten kann.«
»So habe ich es nicht gemeint.«
»Bist du dir in diesem Punkt ganz sicher?« Sie wandte sich ab und prüfte ein weiteres Mal, dass es Clarissa gutging.
Die Fähre kam näher und begann mit dem Anlegemanöver, das noch einige Minuten in Anspruch nehmen sollte. Am Bug standen zwei Frauen und ein Mann, die ihnen zuwinkten. Philipp und Vev winkten verhalten zurück. Es war ein strahlend schöner Tag, fast wolkenlos und dennoch nicht zu warm, weil eine leichte Meerbrise kühle Luft brachte.
»Wer ist denn die mit den bunten Haaren?«, fragte Vev. »Die sieht ja lustig aus, als hätte sie ein Hundertwasserhaus auf dem Kopf. So etwas mag ich. Mit der könnte ich mich verstehen.«
Philipp warf ihr einen leicht befremdeten Blick zu. »Die habe ich nicht eingeladen.«
»Wie heißt sie?«
»Yasmin. Sie hätte schon damals ein hübsches Mädchen sein können, aber sie hat nie etwas von Schönheit gehalten und sich immer irgendwie verunstaltet: bunte Haare, Piercings, die unmöglichsten Klamotten, die ihr überhaupt nicht standen … Neben ihr, die brave Mollige, das ist Leonie. Und der kleine Dünne heißt Timo.«
»So klein ist er nun auch wieder nicht. Sag mal, die drei passen irgendwie gar nicht zu deinen anderen Freunden.«
»Eigentlich waren Timo, Yasmin, Leonie und ich auch keine richtigen Freunde.«
»Sehr gut. Die Freunde von dir, die ich bisher kennengelernt habe, mag ich nämlich nicht besonders.«
»Das hast du mir nie gesagt.«
»Wozu sich über etwas beklagen, das man sowieso nicht ändern kann? Deine Freunde sind nun mal langweilig, da kann man
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