Das Orakel vom Berge
Er konnte ihn nicht zwingen, ihn wieder aufzunehmen. Er konnte sich bloß die Ansicht von Hexagramm fünfzehn aneignen; das war der Augenblick, in dem man bitten, hoffen, gläubig erwarten mußte. Zu gegebener Zeit würde der Himmel dafür sorgen, daß er seinen alten Job wiederbekam. Vielleicht sogar einen besseren.
Gut denn. Nächste Frage. Er richtete sich auf und sagte: »Werde ich Juliana je wiedersehen?«
Das war seine Frau. Oder besser gesagt, seine ehemalige Frau. Juliana hatte sich vor einem Jahr von ihm scheiden lassen. Er hatte sie seit Monaten nicht mehr gesehen, wußte nicht einmal, wo sie lebte. Anscheinend hatte sie San Francisco verlassen. Vielleicht sogar die PSA. Entweder hatten ihre gemeinsamen Freunde nichts mehr von ihr gehört, oder sie sagten es ihm nicht.
Geschäftig manipulierte er die Halme. Wie oft schon hatte er das Orakel nach Juliana gefragt? Hier kam das Hexagramm, ein Ergebnis passiven Zufalls, so, wie eben die Halme fielen. Reiner Zufall und doch tief in jenem Augenblick verwurzelt, in dem er lebte, in dem sein Leben mit allen anderen Leben und allen anderen Partikeln im Universum verbunden war. Das Hexagramm lieferte in seinem Muster gebrochener und ungebrochener Linien ein Bild der Situation. Er, Juliana, die Fabrik an der Goughstreet, die beherrschenden Handelsmissionen, die Erforschung der Planeten, die Millionen von Leichen in Afrika, die man jetzt gar nicht mehr Leichen, sondern nur noch Ansammlungen von Chemikalien nennen konnte, die Hoffnungen der Tausende rings um ihn in San Francisco, die Wahnsinnigen in Berlin mit ihren ausdruckslosen Gesichtern und ihren verrückten Plänen – alle standen in diesem Augenblick miteinander in Verbindung, in jenem Augenblick, in dem er die Halme warf, um die genaue Weisheit auszuwählen, die in einem Buch ihren Anfang genommen hatte, dessen erste Zeilen im dreißigsten Jahrhundert vor der Geburt Christi geschrieben worden waren. Ein Buch, das die Weisen Chinas über eine Periode von fünftausend Jahren geschaffen hatten, an dem sie immer wieder gefeilt hatten, das sie perfektioniert hatten, eine allem anderen überlegene Kosmologie – und Wissenschaft –, die kodifiziert worden war, ehe Europa auch nur gelernt hatte, die Null zu gebrauchen.
Das Hexagramm. Sein Herz sank. Vierundvierzig. Kou . Zusammentreffen. Sein ernüchterndes Urteil. Die Jungfrau ist mächtig . Man sollte eine solche Jungfrau nicht heiraten . Wieder hatte er im Zusammenhang mit Juliana diesen Spruch bekommen. O weh, dachte er und lehnte sich zurück. Sie paßte also nicht zu mir; das weiß ich. Das hab ich nicht gefragt. Warum muß mich das Orakel immer daran erinnern? Ein Mißgeschick für mich, sie kennengelernt zu haben, sie geliebt zu haben – sie zu lieben.
Juliana – die schönste Frau, die er je geheiratet hatte. Kohlschwarze Augenbrauen, rabenschwarzes Haar: Spuren von spanischem Blut. Ihr geräuschloser Gang; sie hatte immer Turnschuhe getragen, die noch von der Schule übriggeblieben waren. Genaugenommen hatten all ihre Kleider immer etwas heruntergekommen gewirkt und den Eindruck vermittelt, alt und oft gewaschen zu sein. Er und sie waren so lange pleite gewesen, daß sie trotz ihres Aussehens einen Baumwollpullover hatte tragen müssen, eine Tuchjacke mit einem Reißverschluß, einen braunen Tweedrock und Socken. Und sie hatte ihn und ihre Kleider gehaßt, weil, so hatte sie es ausgedrückt, sie damit immer aussah wie eine Frau, die Tennis spielte oder – was noch schlimmer war – eine, die im Wald Pilze sammelte.
Aber was ihn von Anfang an am meisten zu ihr hingezogen hatte, war ihr seltsamer Ausdruck; Juliana hatte die Angewohnheit, Fremde völlig grundlos mit einem undurchdringlichen Mona-Lisa-Lächeln zu begrüßen, so daß sie nicht wußten, ob sie Hallo sagen sollten oder nicht. Und sie war so attraktiv, daß sie es meist taten, worauf Juliana einfach weiterschwebte. Zuerst hatte er geglaubt, sie sähe einfach schlecht, aber schließlich war ihm klar geworden, daß dieses Lächeln nur Ausdruck einer ansonsten gut verborgenen Dummheit war. Und dennoch – selbst am Ende, als sie sich die meiste Zeit gestritten hatten, sah er in ihr nie etwas anderes als eine direkte und wunderbare Erfindung Gottes, die aus Gründen, die er nie erfahren würde, ihm geschenkt worden war. Und aus diesem Grunde – das Ganze hatte einen beinahe religiösen Charakter – konnte er einfach nicht darüber hinwegkommen, sie verloren zu haben.
Im Augenblick schien
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