Das Orakel vom Berge
extreme Auswirkungen auf die Zukunft seiner Welt haben kann, ein Gesamtergebnis, das weit höher anzusiedeln ist als die Summe der vier Einzelteile.
Nicht nur, was die Handlungsanlage betrifft, hat Dick in seiner schriftstellerischen Entwicklung mit diesem Roman einen großen Schritt getan. In Das Orakel vom Berge hat er sich vom linearen Handlungsentwurf seiner ersten Romane hin zu einem Charaktersystem bewegt, das die Handlung aus mehreren Blickwinkeln vereinigt oder auch kontrastiert – eine literarische Technik, die Dick in seinen späteren Romanen immer wieder anwandte. Durch die mitunter knappen Dialoge ist es ihm auch in stilistischer Hinsicht geradezu perfekt gelungen, die asiatische Mentalität seiner Charaktere oder den Einfluß der japanischen Besatzer auf die Amerikaner zürn Ausdruck zu bringen. Und auch Dicks Weltansicht hat sich seit diesem Roman grundlegend verändert. Er zeigt sich in seinen Auffassungen über machtpolitische Zusammenhänge sehr gereift. Weiterhin ist die Beschreibung von (politischer und anderer) Macht und deren Mißbrauch ein konkretes Thema in seinem Werk, doch konnten in seinen früheren Werken Einzelpersonen noch totalitäre Gesellschaftssysteme mit schier unendlicher Machtfülle stürzen, so bleibt hier letztendlich offen, ob die Japaner ihrer Vernichtung durch ihre ehemaligen Verbündeten entgehen können (wenngleich Grund zur Hoffnung besteht). Dick hat mit Das Orakel vom Berge endgültig den Schritt von haltlosen SF-Phantasien mit wunschträumerischen Inhalten hin zur Schilderung von Gesellschaften getan, in denen einzelne Individuen nur noch machtlose Rädchen im Getriebe sind. Mit diesem Roman hat er den Schritt von der heldenhaften Anlage der Charaktere seines Frühwerks hin zu den ganz normalen Menschen vollzogen, den Antihelden, die sein Hauptwerk prägen.
Wie Hawthorne Abendses ›Schwer liegt die Heuschrecke‹, so ist auch Das Orakel vom Berge unter dem Einfluß des I Gings, des Buchs der Wandlungen, entstanden. Dick hat sich jedoch widersprüchlich geäußert, in welchem Umfang er das Orakel bei der Gestaltung des Romans heranzog. 1974 führte er in einem Interview aus: »Ich benutzte das I Ging in Das Orakel vom Berge, weil eine ganze Reihe Charaktere es benutzt hat. Immer, wenn die Figuren eine Frage stellten, warf ich die Münzen und übernahm die Hexagramm-Linien, die sie als Antwort bekamen, in den Roman. Das bestimmte die Richtung, die die Handlung nahm. Wie am Ende, als Juliana Frink sich fragte, ob sie Hawthorne Abendsen mitteilen solle, daß es ein Attentäter auf ihn abgesehen hatte, oder nicht, und die Antwort war ›Ja‹. Wenn die Antwort ›Nein‹ gewesen wäre, hätte ich sie nicht zu ihm gehen lassen. Aber das würde ich in keinem anderen Buch tun.«
In diesem Interview gestand Dick eine große Bedeutung des I Ging auf sein Leben ein: »Wenn man das I Ging lange genug und kontinuierlich benutzt, wird es einen verändern und als Persönlichkeit formen. Es wird einen zu einem Taoisten machen, ob man das Wort nun schon einmal gehört hat oder nicht, ob man Taoist werden will oder nicht.«
1976 äußerte er sich schon wesentlich kritischer zur Verwendung des I Ging bei der Niederschrift des Romans: »Als es an der Zeit war, das Buch abzuschließen, versagte das I Ging völlig, ließ mich einfach im Stich. Und da ich kein Expose hatte, keinen Handlungsentwurf, keine Struktur, steckte ich furchtbar in der Klemme.« Doch gerade dieses offene Ende, von dem schon die Sprache war, verleiht der taoistischen Auffassung Ausdruck, daß die Gegensätze Yin und Yang nicht im Kampf miteinander stehen, sondern zwei Bestandteile der Gesamtheit sind: Ob die ›Operation Löwenzahn‹ nun verwirklicht wird oder verhindert werden kann, die Geschehnisse sind ständig im Fluß, und es obliegt jedem einzelnen Menschen, durch seine Handlungsweise verändernd auf sie einzuwirken und die umfassende Harmonie anzustreben und zu ihr beizutragen, wie es von Robert Childan über Mr. Tagorni und Frank Frink bis hin zu Juliana Frink alle Hauptpersonen dieses Romans getan haben.
Dick mochte zwar vorab keinen genauen Handlungsentwurf verfaßt haben – auch dieses intuitive Vorgehen entspricht dem taoistischen Prinzip –, doch er hatte schon während seiner Studienzeit und noch lange danach umfangreiche Recherchen über den Nazifaschismus betrieben. Diese Studien trugen nicht nur zu den ›Was - wäre-wenn-Spekulationen‹ des Romans bei – Hitler aufgrund von Syphilis
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