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Das Schmetterlingsmädchen - Roman

Das Schmetterlingsmädchen - Roman

Titel: Das Schmetterlingsmädchen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Moriarty
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ruhig, behutsam. »Wann hast du dich dazu entschlossen?«
    »Heute.« Sie zog einen Handschuh aus und fuhr mit einer Fingerspitze über das Glas, um die Spur eines Regentropfens nachzuzeichnen. »Keine Sorge, ich komme zurück. Es ist nur ein kleines Abenteuer. Wie für die Zwillinge ihre Arbeit auf der Farm. Bevor sie aufs College gehen, bin ich wieder da.«
    Sie betrachtete das Haus, das sogar im Regen schön war, wenn auch viel zu groß für sie beide. Es war ein Haus, das für eine große Familie gebaut – und gekauft – worden war, aber nach Lage der Dinge hatten sie den zweiten Stock nie für etwas anderes als ein Spielzimmer und später als Stauraum genutzt. Aber obwohl die Zwillinge nun ausgezogen waren, wollten weder sie noch Alan es verkaufen. Sie liebten beide die ruhige Nachbarschaft, und sie liebten das Haus, das mit seiner Veranda und dem Ecktürmchen von der Straße her so majestätisch aussah. Sie redeten sich ein, dass es für die Zwillinge schön wäre, an einen vertrauten Ort zurückzukommen. Sie hatten ihre Zimmer unverändert gelassen, damit sie in den Ferien und im Sommer umso lieber nach Hause kommen würden; die Betten waren gemacht, und in den Regalen standen ihre alten Bücher.
    »New York City?«, fragte Alan.
    Sie nickte.
    »Gibt es einen besonderen Grund, warum du dorthin willst?«
    Sie wandte sich zu ihm um und betrachtete seine warmen Augen, das glatt rasierte Kinn mit dem Grübchen. Sie war noch ein junges Mädchen gewesen, als sie sein Gesicht zum ersten Mal sah. Seit neunzehn Jahren lebten sie zusammen. Er kannte den besonderen Grund.
    »Ich könnte ein bisschen recherchieren«, sagte sie.
    »Hältst du das für eine gute Idee?«
    »Ich kann Della fragen, ob sie morgens früher kommen oder nachmittags länger bleiben kann. Oder beides.« Sie lächelte. »Du nimmst bestimmt zu. Sie kocht viel besser als ich.«
    »Cora.« Er schüttelte den Kopf. »Das beantwortet meine Frage nicht.«
    Sie drehte sich um und legte ihre Hand auf die Tür. Das war das Ende der Diskussion. Ihr Entschluss stand fest.

2
    Die Brooks wohnten in der North Topeka Street, nahe genug bei Coras Haus, dass der Weg normalerweise nicht einmal eine Viertelstunde dauerte. Doch Cora brauchte wesentlich länger, weil sie seit Langem die Angewohnheit hatte, jedes Mal, wenn sie ein Auto vorbeifahren hörte, ihren Schirm zu heben, um nachzuschauen, ob es vielleicht jemand war, den sie kannte. Wenn eine Freundin oder ein Bekannter von Alan so nett war, stehen zu bleiben, um sie zu fragen, ob sie mitfahren wolle, oder eine Bemerkung über das Wetter zu machen, blieb sie gern für einen kurzen Plausch stehen. Sie schätzte das freundliche Miteinander, ganz besonders in dieser Kleinstadt, die ihr nach all den Jahren immer noch so groß erschien. An diesem Morgen jedoch lehnte sie alle Angebote mitzufahren ab und erwähnte lediglich, dass sie eine Freundin besuchen wollte.
    Sie erreichte pünktlich ihr Ziel, weil sie früh genug aufgebrochen war, um sich Zeit lassen zu können, und es war Punkt elf, als das Haus der Brooks in Sichtweite kam. Obwohl es in einem matten Grau gestrichen war, war es kaum zu übersehen. In einem Block mit großen Häusern war es bei Weitem das größte: dreistöckig und so weitläufig, dass es fast zu mächtig für die durchschnittliche Größe des Grundstücks wirkte. Alle Vorderfenster standen offen, um die Morgenbrise hereinzulassen – bis auf eines, dessen Rahmen einen tiefen Sprung aufwies und möglicherweise zu beschädigt war, um geöffnet zu werden. Der Rasen war frisch gemäht, und mehrere Fliederbüsche, die noch blühten, rahmten die schattige Kalksteinveranda ein. Als Cora die Stufen hinaufstieg, umkreiste eine Hummel sie zweimal, ehe sie das Interesse verlor und davonbrummte.
    Myra öffnete mit einem Lächeln auf den Lippen die Tür, und wieder einmal überraschte es Cora, wie klein ihre Gastgeberin im Grunde war. Cora erreichte knapp Durchschnittsgröße und war es nicht gewohnt, auf andere erwachsene Frauen herunterzuschauen, aber Myra überragte sie um mindestens zehn Zentimeter. Wenn sie an Myra dachte, sah sie keine kleine Frau vor sich – sie wirkte ganz und gar nicht klein, wenn sie auf einem Podium stand, und sie hatte die volle, tiefe Stimme einer größeren Frau. Und trotz ihrer zierlichen Gestalt hatte Cora nie gehört, dass jemand Myra als »süß« oder »entzückend« oder auch nur »hübsch« bezeichnete. Sie wurde »schön« oder »faszinierend« oder »reizvoll«

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