Das unsichtbare Volk
Klassenkameraden
machen dir das Leben schwer, verspotten dich, wie sagt man heute neudeutsch?
Sie mobben dich, schicken dir gemeine SMS-Sprüche, schreiben Drohungen an die
Tafel und in deine Hefte, wollen dich verprügeln, und du weißt gar nicht, was
du ihnen getan hast. Jedenfalls bist du todunglücklich, so sehr, dass du am
liebsten die Schule schwänzen möchtest. Stimmt´s?“
„Es stimmt, aber
was soll ich machen? So viele gegen einen? Wenn ich mich wehre, wird alles nur
noch schlimmer.“
„Was du machen
sollst? Meinen Zauber in Anspruch nehmen.“
„Zauber? Sie
wollen mir bestimmt was andrehen, um an mein Taschengeld zu kommen“, wehrte
Sven ab.
„Meinst du
wirklich, dass eine Fee das nötig hätte?“ Mit diesen Worten griff die kleine
Frau in ihre silberne Umhängetasche und hielt Sven eine Handvoll Münzen aus
purem Gold unter die Nase, die sie ein paar Sekunden lang blitzen und klimpern
ließ.
„Wenn du
möchtest, dass dich deine Plagegeister zukünftig in Ruhe lassen, statte ich
dich mit einer Waffe aus, die Wunder wirkt.“
„Waffe?“,
fragte Sven naiv. „Waffen sind an unserer Schule streng verboten. Um Schüler
und Lehrer vor Amokläufern zu schützen.“
„Doch keine
Pistolen, Schwerter oder Dolche. Ich habe an deine Haare gedacht.“
„Haare? Waffe?
Machen Sie Witze?“
Die kleine
Frau strich Sven mit ihrem Stab über seine Stoppelfrisur und murmelte etwas
Unverständliches. „Wie ist´s, du Ungläubiger? Wollen wir´s mal ausprobieren?“
Ohne eine
Antwort abzuwarten, sagte sie: „Wenn uns einer deiner Klassenkameraden
überholt, rufst du eine beliebige Zahl zwischen eins und hunderttausend. Fang
aber bitte mit einer kleinen Zahl an. Kannst du dir das merken?“
Es dauerte nicht
lange, bis einer von Svens Plagegeistern an ihnen vorbeihastete und dabei Sven
mutwillig anrempelte und lauthals schimpfte: „Blödmann, kannst du nicht
aufpassen?“
„Jetzt, sag
schon“, kommandierte die kleine Frau.
„Sieben“, rief
Sven, obwohl er nicht wusste, was er von dem ganzen Theater halten sollte.
Doch dann sah
er, dass Sabri sich in den Nacken griff und wie wild zu kratzen begann, als ob
er von einem Bienenschwarm überfallen worden wäre.“
„Du hast deine
Haare als Pfeile benutzt“, erläuterte die kleine Frau. „In der Haut des Opfers
haben sie schmerzhafte Pickel hervorgerufen, aus denen deine Haare
herausgucken. Ganz schön hässlich, vor allem, wenn du denen die Pfeile mitten
ins Gesicht schießt. Stell dir nur mal die Mädchen vor – mit so einem Gesicht.
Und nur du kannst die Pickel wieder verschwinden lassen.“
„Und wie?“
„Indem du
‚null‘ rufst. Ich würde die Plagegeister aber nicht so schnell erlösen, sondern
sie eine Weile zappeln lassen.“
„Das werde
ich, darauf können Sie Gift nehmen.“
„Vorsicht, Vorsicht,
du musst sparsam mit deiner Waffe umgehen.“
„Warum sollte
ich? Sie sind auch nicht sparsam mit mir umgegangen.“
„Die
abgeschossenen Haare wachsen nicht wieder nach. Deswegen. Oder möchtest du eine
Glatze kriegen? Und nun tschüss, und denk an meine Worte.“
In der großen
Pause wurde Sven von seinen Klassenkameraden umringt, regelrecht eingekesselt,
geknufft und gestoßen: „Wer hat dich Milchbubi denn heute zur Schule gebracht?
War das deine Mami? Hast du eine Zwergin zur Mutter? Kam sie gerade von einem
Faschingsball? Kriegst du auch so ein Kostüm für die Schule? Oder war das etwa
deine Freundin.“
Und wieder
kriegte Sven ein paar kräftige Stöße in den Rücken.
Wutentbrannt
schrie er: „Hunderttausend!“
Augenblicklich
begannen seine Plagegeister sich am ganzen Körper, vor allem aber an den
unbedeckten Stellen, zu kratzen. Entsetzen stand ihnen ins Gesicht geschrieben,
als sie gewahr wurden, wie sich ihre Gesichter verändert hatten, so entstellt
sahen sie aus. Als ob eine schreckliche Epidemie ausgebrochen wäre.
Sven wollte
sich, hochzufrieden mit deiner erfolgreichen Strafaktion, das Haar glatt
streichen, aber auf seinem Kopf gab es keine Haare mehr. Eine glatte runde
Fläche. Die Klassenkameraden waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass
sie die Veränderung an ihrem Opfer noch gar nicht wahrgenommen hatten.
„Habe ich dich
nicht gewarnt?“, flüsterte eine Stimme neben ihm. Zu sehen war die kleine Frau
jedoch nicht. „Weil du mir leidtust, will ich dir noch einmal helfen. Du kannst
wählen. Deine Plagegeister bleiben, wie sie sind, und du kriegst deine Haare
zurück, oder sie werden
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