Linda Lael Miller
Kapitel 1
Elisabeth
McCartneys tief abgesackte Laune hob sich ein wenig, als sie an dem verbeulten
ländlichen Briefkasten abbog und das Haus wiedersah.
Das weiße
viktorianische Gebäude stand am Ende einer langen, mit Kies bestreuten
Zufahrt, flankiert von Apfelbäumen in leuchtender rosigweißer Blüte. Eine
Veranda zog sich an der Vorderseite und an einer Schmalseite hin, und wilde
Rosenbüsche mit scharlachroten und gelben Blüten kletterten an der Westwand an
einem Spalier hoch.
Elisabeth
hielt ihren kleinen Kombi seufzend vor der Garage an und betrachtete mit müden
blauen Augen die Veranda mit dem durchhängenden Boden und der abblätternden
Farbe. Noch vor weniger als zwei Jahren hätte Tante Verity auf den Stufen
gestanden und sie mit einem Lächeln und einer Umarmung erwartet. Und Elisbeths
Lieblingskusine Rue wäre über das Geländer gesprungen, um sie zu begrüßen.
Unwillkürlich
füllten sich Elisabeths Augen mit Tränen. Tante Verity war tot, und Rue war Gott
weiß wo und riskierte vermutlich Kopf und Kragen für eine brandheiße Reportage.
Die Scheidung von Ian, die erst seit einem Monat rechtskräftig war, stellte ein
Trauma dar, das Elisabeth allein überwinden mußte.
Schniefend
straffte sie ihre Schultern und holte tief Luft, um sich Mut zu machen. Sie
griff nach der Handtasche, stieg aus dem Wagen und zog ihren Koffer hinter
sich her. Liebend gern hatte sie Ian ihre ultramodernen Möbel aus Plastik und
Rauchglas überlassen. Ihre Bücher, Bänder und anderen persönlichen Gegenstände
sollten später von einer Umzugsfirma gebracht werden.
Sie schob
den Schulterriemen der Tasche über die Schulter, und während sie sich der
Veranda näherte, strich das hohe Gras über ihre weißen Jeans. An der Tür mit
dem bunten Glaseinsatz stellte Elisabeth den Koffer ab und suchte in ihrer
Tasche nach den Schlüsseln, die ihr der Makler bei ihrem Besuch in Pine River
gegeben hatte.
Das Schloß
war alt und widerborstig, aber es gab nach. Elisabeth öffnete die Tür und
betrat mit ihrem Gepäck die vertraute Diele.
Manche
Leute glaubten, daß es in diesem Haus spukte. Seit hundert Jahren gab es diese
Legende in und um Pine River. Doch für Elisabeth war es ein freundlicher Ort.
Es war ihr sicherer Hafen seit dem Sommer, als sie fünfzehn gewesen war. Als
ihre Mutter plötzlich gestorben war, hatte ihr trauernder Vater sie hierher zu
seiner etwas exzentrischen, verwitweten Schwägerin Verity geschickt.
Elisabeth
lehnte sich von innen gegen die massive Tür und ließ ihre Gedanken
zurückwandern. Rues wohlhabende Eltern hatten sich in demselben Jahr scheiden
lassen, und Elisabeths Kusine hatte sich der kleinen Herde angeschlossen.
Verity Claridge, die herrliche Geschichten über Geister und Magie und Leute,
die sich zwischen den Jahrhunderten hin und her bewegten, erzählen konnte,
hatte beide Mädchen aufgenommen und sie schlicht und einfach geliebt.
Elisabeth
biß sich auf die Unterlippe und stieß ihre schlanke Gestalt von der Tür ab. Es
hätte bedeutet, zuviel zu hoffen, dachte sie mit einem gequälten Lächeln, daß
Tante Verity noch immer durch diese großen Räume wanderte.
Mit einem
Seufzer hängte sie die Schultertasche über den Treppenpfosten und schleppte den
Koffer hinauf.
Oben
befanden sich drei Schlafzimmer, alle auf der rechten Seite des Korridors.
Elisabeth blieb stehen, blickte neugierig auf die einzelne Tür linker Hand und
berührte den Knauf.
Hinter
dieser Holztür lagen drei Meter freien Falls bis zu dem Dach des Wintergartens.
Die verschlossene Tür hatte sie und Rue immer fasziniert, vielleicht weil
Verity ihnen so überzeugende Geschichten über die Welt erzählt hatte, die auf
der anderen Seite lag.
Elisabeth
schüttelte lächelnd den Kopf und ließ ihre vorne kinnlangen und im Nacken
schulterlangen blonden Locken um ihr Gesicht schwingen. »Du magst nicht mehr
sein, Tantchen«, sagte sie leise, »aber der Einfluß deiner Phantasie lebt
weiter.«
Damit
öffnete Elisabeth die Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Korridors und
betrat das Schlafzimmer der Hausherrin. Der Rest des Hauses bedurfte dringend
einer Reinigung, aber der Makler hatte in Erwartung von Elisabeths Ankunft
einen Reinigungstrupp geschickt, um die Küche und ein Schlafzimmer vorzubereiten.
Das große
Bett mit den vier Pfosten war aufgedeckt und poliert worden. Elisabeth legte
den Koffer auf die mit blauem Samt bespannte Bank am Fußende des Bettes und
sah sich um.
Der
gewaltige Mahagonischrank
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