Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
mit der Zeit immer strahlender werden, so leuchtend wie die schimmernden Oliven, die ich hier in der Markthalle auswähle. Jetzt kleide ich mich in meinen vielfarbigen Mantel. Allein und unabhängig wähle und entscheide ich. Ich esse das Fleisch und spucke die Steine aus. Ich bin gesättigt. Irgendwo unter all diesen Gesichtern und Stimmen höre ich immer noch seine Stimme, erhasche ich flüchtige Blicke auf das Gesicht meines Vaters.
Fünfunddreißigstes Kapitel
Die Straßen der Altstadt sind nahezu klinisch rein. Sie riechen nach Metallputzmittel und Karbol. Die Stufen der Davidstraße sind geschrubbt, der Stein gefährlich rutschig; überall frische Farbe und neue Markisen. Die gesamte Altstadt wirkt sauber: eine zivilisierte und angespannte Modernität.
Früher, vor langer Zeit, war der Basar verzaubert. An die Hand meines Vaters geklammert trat ich in einen Tunnel von Farben und Licht, leuchtenden Garnen und Perlen und glitzernden Dingen, Musik und Geschrei, warmen, pfeffrigen Düften, vielen fremden Gesichtern. Beißend riechende Körper streiften mich. Fremde Menschen zupften mich am Ärmel. Überall lauerte eine verlockende, lächelnde Gefahr. Ich war voller Habgier, mir schwirrte der Kopf vor Verlangen, und ich wurde von einem Wunsch zum nächsten gezogen.
Als ich im jüdischen Viertel ankomme, ist es verlassen und still, die Bürgersteige glatt, die Häuser schmucklos und rechteckig wie auf einem Universitätsgelände.
Das Haus mit der Hand in der Chabad-Straße wurde von den Jordaniern in tausend Stücke geschlagen, ebenso wie die Churvah-Synagoge, die Jeschiwa »Baum des Lebens« und der Keller, in dem Shalom Shepher seine Kaffeetasse aufbewahrte.
Das Dorf Deir Yassin war, wie so viele andere auch, nach dem Krieg von’48 zerstört. Der Weg, der einmal dorthin führte, ist jetzt eine befestigte Straße. Auf den Feldern, auf denen die Ziegen grasten, stehen nun Häuser.
Sechsunddreißigstes Kapitel
Saul erklärt, der Kodex sei bei Cobby. Cobby glaubt, sie haben ihn Miriam geliehen. Miriam sagt, sie hätten ihn Saul zurückgegeben. Shloime Goldfarb streitet einfach alles ab. Niemand scheint zu wissen, wo der Kodex ist.
Allein in meinem Zimmer gehe ich die Verdächtigen durch. Jeder von uns könnte der Dieb sein. Vielleicht hat Sara Malkah ihn in ihrer Aussteuerkiste vergraben. Oder
ihr Bruder Yossel hat ihn zwischen seinen heiligen Büchern versteckt. Vielleicht hat Miriams Enkel nur so getan, als interessiere es ihn nicht, und hat eine Geheimdienstoperation organisiert. Oder Rabbi Gershom Shepher versteckt sich mit schlechtem Gewissen in seinem vollgestopften Arbeitszimmer in Mea Shearim und sucht in dem verbotenen Text nach Hinweisen zum Ende des Welt.
Jeder von uns könnte schuldig sein, außer mir. Ich habe ihre Fragen beantwortet, ich habe geholfen, so gut ich konnte. Ich habe ihnen sogar erlaubt, meine Sachen zu durchsuchen. Dubis Aussage unterstützt mich, wobei er, was schlecht für ihn ist, sich schon lange nicht mehr an das übliche Vorgehen gehalten hat: Aufzeichnungen über die Besucher existieren nicht, in einer Reihe von Kameras liegt skandalöserweise kein Film, die Sicherheitsvorkehrungen im Archiv werden überdacht werden müssen. Sie haben die Ermittlungen gegen mich eingestellt: Ich bin aus der Sache raus. Und wieso sollte ich auch etwas stehlen, das ich ohnehin nicht mitnehmen könnte?
Miriam vermutet, dass Saul ihn hat, auch wenn er es nie zugeben wird. Er wird ihn mitnehmen, glaubt sie, nach Tiberias, ihn dort in seiner Wohnung auf einen Tisch legen, und dort wird er bald unter allerlei Krempel begraben sein. Saul wird den Stapel mit dem Buch vom Tisch heben und ihn in eine Ecke legen, auf den Boden, wo er jahrelang liegenbleiben wird, immer tiefer vergraben, während der Mythos vom Kodex wächst und wächst und Cobby, Miriam und Sara Malkah, die Kriminalpolizei, die Gelehrten und die Neturei Karta, der ganze große Clan der Familie Shepher vergeblich herauszufinden versuchen, was aus ihm geworden ist.
Aber einzig Saul wird die Wahrheit vermuten.
Die Familie wird wohl nicht gerne daran erinnert werden
wollen, dass sie einst für einen Tag die Chance gehabt hatte, den Kodex zu veräußern und mit dem Geld das Haus zu retten.
Und ich sage mir: Lass ihn los, lass ihn los. Lass ihm seine Geheimnisse. Was sollten wir auch mit einer Gewissheit anfangen, mit der Leblosigkeit einer makellosen Weisung? Dies ist letztlich der Grund, warum ich den Kodex einerseits
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