Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
die Landschaft, während die Sonne unterging, die Farbe der Felder sich veränderte und die Luft kühler wurde. Und wir schwiegen, denn es gab nichts zu sagen. Schließlich wandten wir dem Horizont den Rücken zu und fuhren auf der dunkler werdenden Straße schweigend nach Hause.
Einunddreißigstes Kapitel
Als für Moses die Zeit gekommen war zu sterben, nahm Gott ihn mit auf den Gipfel des Berges Nebo, und er sah hinunter über das Tal des Jordan: Und siehe, es war ein schönes und geräumiges Land, ein Land, in dem Milch und Honig flossen.
Und Gott sprach: Dies ist das Land, das ich Abraham, Isaak und Jakob zugeschworen habe. Ich habe es dich schauen lassen mit deinen Augen, aber dort hinüber sollst du nicht kommen.
Und Moses betrachtete das Land mit seinen Augen, und das Land war schön. Und Moses sagte: Oh Herr, lass mich nicht sterben. Lass mich hinübergehen ins Gelobte Land. Aber Gott antwortete: Schweig still, denn dies ist mein Ratschluss.
Und Moses bat ihn und sprach: Lass mich nicht sterben. Lass mich dort leben als Vieh auf dem Feld, als Vogel in den Lüften! Aber Gott antwortete: Schweig still, denn dies ist mein Ratschluss.
Dann rief Gott den Engel Gabriel und sprach: Geh hin und hole die Seele meines Knechtes Moses, denn seine Stunde ist gekommen. Aber Gabriel weigerte sich, dies zu tun.
Und so forderte Gott den Engel Uriel auf und sprach: Geh hin und hole die Seele meines Knechtes Moses, denn seine Stunde ist gekommen. Aber Uriel weigerte sich, dies zu tun.
Dann sprach Gott: Ist nicht einer unter meinen Engeln, der dies tun wird? Und der Engel Samael sprach: Ich werde hingehen und die Seele Moses’ holen. Und er ging hin.
Und der Engel Samael erschien Moses und sprach: Komm,
Moses. Übergib mir deine Seele, denn deine Stunden sind gezählt. Moses aber wies den Engel zurück und sagte: Kann einer wie du über die Seele Moses’ befehlen? Und der Engel Samael wurde zurückgewiesen.
Da sprach Gott: Ich werde selbst gehen und seine Seele holen. Und Gott erschien Moses in einer Höhle im Gebirge Pisga.
Nun, Moses, sprach er, leg dich hin. Und Moses legte sich hin.
Schließ die Augen, Moses, sprach er, und Moses schloss die Augen.
Falte die Hände über der Brust, sprach er, und Moses faltete die Hände.
Dann befahl Gott der Seele des Moses hinauszutreten, aber sie weigerte sich und weinte: Zwing mich nicht, ihn zu verlassen!
Der Mensch muss sterben, sagte Gott. Komm heraus, und ich werde dir einen Platz zu meinen Füßen geben.
Aber die Seele des Moses weigerte sich immer noch.
Da beugte Gott sich nieder und küsste seinen Knecht Moses und nahm ihm seine Seele mit einem Kuss auf den Mund.
Und Gott weinte, und die Erde weinte, und der Himmel weinte.
Zweiunddreißigstes Kapitel
Saul sagt: »Du weißt natürlich, dass dein Vater deine Mutter nicht geliebt hat.«
Wir sind allein in der Ruhe des düsteren Wohnzimmers. Die Familie ist gegangen, der Aufruhr vorüber. Wir sind allein mit dem Schweigen der Umzugskartons. Ich bin den
ganzen Tag durch die Zimmer des Hauses gegangen und habe ein Andenken gesucht, das ich meinem Bruder hätte mitbringen können, aber nichts Passendes gefunden. Auf dem kargen Grundstück hinter dem Haus, in der Nähe des einstigen Plotsky-Gartens, wird auf einer Tafel der Bau von sechzehn Luxuseigentumswohnungen angekündigt. Ich stand eine Weile dort und dachte darüber nach. Dann ging ich wieder zum Haus zurück und sammelte im Schatten Zypressensamen für meine Nichte, die sie einpflanzen kann.
Wenn ich wieder zu Hause bin, will ich ihr erzählen, woher diese Samen stammen: Wie ihr Großvater deren Vorfahren pflanzte. Es gibt jetzt so viele Geschichten, die ich ihr erzählen kann: Geschichten von Metatron und Sandalfon, Legenden von Moses, Mythen über die zehn verlorenen Stämme hinter dem Fluss Sambatyon; und eine Geschichte, die so beginnt: In der Woche nach seiner Bar-Mizwa, im Frühjahr 1853, trat dein Ururgroßvater, Shalom Shepher aus Skidel, in den Stand der Ehe. Er zog zu seinem Schwiegervater, dem Rabbi von Bielsk … All diese Dinge war ich nun bereit weiterzugeben: es mit Freuden zu tun und ohne zu viel Schmerz.
Es ist jetzt beinahe dunkel. Durch die Straßen streicht ein leiser Abendwind. Vor der Synagoge schimmern die Laternen. Der Platz hat etwas Ruheloses, nahezu Unheilvolles: Man könnte glauben, es stünde ein Verhängnis bevor. Saul steht auf der Veranda und schaut hinaus, ein Phantom dieses Orts in seinem weißen Hemd: Als sehe er
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