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Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]

Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]

Titel: Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Sons
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Sasha, deren zweitälteste, begabteste und umgänglichste Tochter, fand das seltsam und zweifelte in kleiner – ganz kleiner – Runde an, dass die Götter verlangten, dass die Hüter ihrer Gaben ihre Augen vor dem Leid einfacher Menschen verschließen müssten. Von Sasha wusste sie aber auch, dass es jetzt anders werden würde, denn Fürst Darius hatte um Hilfe für den Kampf gegen den Tyrannen ersucht, und die Nebelfrauen hatten diese zugesagt. Sasha war aufgeregt wie nie und betete darum, dass ihre Mutter sie schicken würde, weil sie es als heilige Pflicht ansah, anderen zu helfen.
    Lexa war der Ansicht, dass für eine so wichtige Aufgabe ohnehin nur die Königin selbst oder Sasha in Frage käme, und war daher verblüfft, jetzt Prinzessin Caitlin holen zu müssen. Königin Ayala hatte fünf Töchter, die so unterschiedlich waren wie ihre Erzeuger, und die siebzehnjährige Caitlin war in ihren Augen mit Abstand die nichtsnutzigste. Unmöglich konnte Ayala allen Ernstes ein Fräulein schicken wollen, das, sollte es tatsächlich einmal Augen und Ohren für die Belange anderer öffnen, sich angesichts des Elends lediglich fragen würde, welches ihrer unzähligen Kleider für einen Rundgang durch die Armut passend wäre. Wenn jemand nur für sich selbst und für eigenes Vergnügen lebte, dann war es Prinzessin Caitlin, und Lexa ging davon aus, dass der Rat der dreizehn höchsten Priesterinnen das nur genauso sehen konnte. Sicherlich sollte sie die Prinzessin aus anderen Gründen holen.

    Königin Ayala zwickte einen wilden Trieb von einem Bäumchen und summte dabei vor sich hin. Pflanzen und deren Kreuzung waren ihre Leidenschaft, das Sonnenzimmer ihr bevorzugter Raum. Gewächse aus allen Teilen der Reiche wurden hier gehegt und gepflegt. Es blühte in Trichtern, Trauben, Kelchen oder zarten Gespinsten und in sämtlichen Farben des Regenbogens. Säulen und selbst die gewölbte Decke waren von Ranken bedeckt, und über allem lag ein Duft voller Süße und Frische. Steinerne Bänke, von denen aus man Trauben oder Feigen pflücken konnte, und Sitzgruppen inmitten einer Rosenpracht luden zum Verweilen ein, Sonnenlicht durchflutete den Raum, Bienen summten und Vögel flatterten von draußen hinein und wieder hinaus. Das Sonnenzimmer mit seinen ebenerdigen, stets offenen Fenstern war mehr Garten als Gemach.
    Die hohe Flügeltür wurde von Lexa geöffnet, und Prinzessin Caitlin rauschte in einem fließenden Traum goldgelber Javaseide herein, der wunderbar mit ihrer roten Haarpracht harmonierte. Die Prinzessin verstand es, ihre Vorzüge zur Geltung zu bringen. Nur wenige Kämme hielten ihre wilden Locken im Zaum. Das enggeschnürte Kleid betonte ihre Wespentaille, ihre mit Edelsteinen bestickten Schuhe klackten, und ihre zahlreichen Armreifen klimperten.
    »Ihr habt mich rufen lassen, Mutter?« Sie huschte leichtfüßig durch den Raum und achtete dabei darauf, dass ihr kostbares Kleid nicht mit den Pflanzen in Berührung kam.
    Die Königin warf ihr einen flüchtigen Blick zu, nickte, drehte das Bäumchen aus eigener Zucht und knipste einen weiteren unerwünschten Trieb ab.
    »Caitlin, ich weiß, dass du der Welt außerhalb unserer Insel nur wenig Beachtung schenkst, aber du hast trotzdem sicher schon von der Prophezeiung gehört, deren Niederschrift in der Zitadelle der Träume gefunden wurde. Es ist endlich gelungen, sie zu enträtseln.«
    Caitlin blieb stehen, zog die Nase kraus und schnupperte um sich herum. »Igitt! Irgendein Duft hier ist unangenehm schwer und grenzt an Gestank. Was ist das?«
    »Feldlilien. Ich neige mittlerweile auch zu der Ansicht, ich hätte sie auf dem Feld lassen sollen, und werde sie wieder entfernen. Aber jetzt höre zu, Tochter!«
    Sie sah kurz hoch und wartete, bis die ihren Kopf nach vorn schob und gespannt dreinsah, bevor sie fortfuhr: »Bei deinen Schwestern könnte ich dieses Wissen voraussetzen, aber Martha berichtete mir, dass du nie am Unterricht über die Geschehnisse unserer Zeit teilnimmst. So muss ich dir in aller Kürze die Lage erklären. Im Wolkengebirge, tief im Osten, gibt es eine geheimnisvolle Höhle. Was in ihr verborgen ist, weiß niemand, da keiner, der versuchte, ihr Geheimnis zu lüften, je wiederkehrte. Es muss jedoch etwas Gewaltiges sein, denn vor Urzeiten wurde diese Höhle mit Bannsprüchen belegt und magisch versiegelt. Steinerne Wächter davor, die zum Leben erwachen, wenn man sich ihnen nähert, sorgen dafür, dass jeder Zutritt verwehrt bleibt. Wurden zunächst

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