Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
verschwunden. Dieser Bengel ist mit Vorsicht zu genießen. Der lässt sich offensichtlich nicht so einfach einfangen!«
Sie sah Hylia an, die etwas verloren unter Ranken mit langen, gelben Rispen saß und an ihrem Wein nippte. »Wie geht es den Priesterinnen?«
Die junge Frau setzte den Becher ab und strich sich müde eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Loren stottert immer noch. Ich hoffe, dass sich das wieder gibt. Die anderen klagen über Kopfschmerzen, sind aber ansonsten unversehrt.«
»Wie hat er das nur gemacht?«, fragte Ayala stirnrunzelnd und trommelte wie immer, wenn sie ungehalten war, mit den Fingern auf dem Tisch mit ihren Arbeitsgeräten herum. »Berichte noch einmal, was die Frauen erzählten!«
Hylia seufzte auf. Es war jetzt das dritte Mal, dass Ayala sie um einen Bericht bat. »Sie hatten ihn gerade aufgespürt. Mersia sagte, im Angus-Wald. Ganz plötzlich war die Verbindung da. Ihm musste gerade etwas Schreckliches zugestoßen sein. Die Priesterinnen spürten Furcht und Schmerzen. Es fiel ihnen natürlich schwer, die Verbindung unter diesen Bedingungen zu halten. Dann sahen sie unvermittelt roten Nebel und hatten das Gefühl, ihre Köpfe würden platzen. Als wir sie fanden, bluteten sie aus Nase und Ohren. Sie waren nicht ansprechbar und krümmten sich vor Schmerzen.«
Tief seufzte sie auf, bevor sie ergänzte: »Sie weigern sich strikt, noch einmal eine Verbindung herzustellen. Mehr gibt es nicht zu berichten.«
Die Königin schritt zum Fenster und starrte in den Garten. »So etwas hat es noch nie gegeben! Es ist unmöglich, jemandem auf große Entfernung solchen Schaden zuzufügen«, erklärte sie schließlich. »Was hat das alles zu bedeuten? Das ist doch kein einfacher Prinz!«
»Sondern?«, fragte Martha in herausforderndem Tonfall und knipste sich eine weitere Weintraube ab.
Ayala fuhr herum. »Was weiß denn ich! Sag du es mir!«, blaffte sie ärgerlich zurück.
Die Priesterin sah ihre Königin längere Zeit nachdenklich an. »Hast du schon einmal daran gedacht, dass hier vielleicht noch andere Mächte im Spiel sind? Der kleine Prinz entkommt einem Massaker, dem er nicht hätte entkommen können. Fünfzehn Jahre lang löst er sich in Luft auf. Dann widersetzt er sich zunächst unseren Versuchen, ihn aufzuspüren, obwohl er gar nicht über diese Fähigkeit verfügen dürfte, und tötet Ligurius’ beste Einheit so nebenher. Letztendlich bringt er fast unsere Priesterinnen um. Er besitzt also magische Fähigkeiten, die unseren zumindest in einer Hinsicht überlegen sind, obwohl kein einziger Angehöriger der da’Kandar-Sippe sie ihm hätte vererben können. Weißt du, Ayala, ich komme mehr und mehr zu dem Schluss, dass wir gar nicht wissen, wen wir eigentlich suchen! Wir kennen den Namen, jedoch nicht dessen Träger. Sieh dir das Bild der Familie einmal genau an! Wenn du auch nur eine Familienähnlichkeit entdeckst, siehst du mehr als ich.«
»Aber er war doch ein anerkannter Sohn«, keuchte Hylia.
»Fragt sich nur von wem«, bemerkte Ayala mit zusammengekniffenen Augen. »Die Königin muss schon nah der fünfzig gewesen sein, als der kleine Sonnenschein geboren wurde. Eigentlich doch weit über das Alter hinaus, in dem man sich noch Gedanken über Nachwuchs macht! Hylia, setz alle entbehrlichen Priesterinnen ein. Sie sollen etwas über dunkelgrüne Augen herausfinden. Es muss etwas zu finden sein. Blonde Männer gibt es gerade im Norden reichlich, aber dunkelgrüne Augen sind überall selten. Wir werden unsere Verbindungsversuche einstweilen einstellen, aber ich muss trotzdem wissen, wohin er geht. Martha, Ligurius darf nicht aufgeben. Er soll seine Spione unbedingt weitersuchen lassen.«
Beide Damen nickten, und Martha erklärte: »Keine Angst, das wird er. Er ist mittlerweile so erbost, dass er am liebsten selbst gehen würde, und er wird ihn aufspüren. Wunder dauern manchmal nur etwas länger!«
Caitlin und Gideon sahen wehmütig den Pferden hinterher, die zurück in den Wald trotteten.
»Was guckt ihr denn? Wollt ihr da festfrieren?«, kam es barsch von ihrem Führer.
Gideon verdrehte die Augen. Rhonan war schon den ganzen Vormittag ziemlich unleidlich gewesen. Seine Antworten waren einsilbig, seine Anweisungen knapp ausgefallen. Es war deutlich zu sehen, dass es ihm nicht gutging. Er war bleich, und trotz der Kälte glänzte Schweiß auf seiner Stirn, aber jede Frage nach seinem Befinden hatte er entweder überhört oder schroff abgewiesen.
Allerdings waren sie
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