Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
Kleinen. Erstaunt stellte er fest, dass sämtliche Spuren der Schläge verschwunden waren, nachdem er das Blut abgewaschen hatte.
Er wollte sich gerade ein neues Hemd greifen, als er zu zittern begann. Wände verformten sich, der Boden schien auf ihn zuzukommen, und er musste sich am Waschtisch festhalten, um nicht zu stürzen. In seinem Bestreben, den Zorn der Unsterblichen von Caitlin auf sich zu lenken, war er zu weit gegangen. Das wusste er selbst. Trotzdem saß der Schock über die mütterliche Bestrafung tief.
Als er wenig später zu den Erben stieß, die ebenfalls an einer reichgedeckten Tafel auf ihn warteten, strahlte er wieder die übliche Ruhe aus.
»Nett, dass ihr gewartet habt!« Bei diesen Worten setzte er sich zu ihnen und ließ den Blick über saftiges Fleisch, zartes Geflügel und Brot wandern.
Gideon grunzte ungeduldig. »Sagst du uns auch, wie es gelaufen ist?«, wollte er wissen.
»Sie waren nicht gerade erfreut, aber an einen Austausch denken sie nicht mehr.« Breit grinste er erst Gideon, dann Caitlin an. »Damit wäre unsere Gemeinschaft besiegelt.«
Caitlin hatte Mühe, ihre verkrampften Hände vom Becher zu lösen, und atmete erleichtert durch.
Und Gideon hob beschwingt seinen Becher. »Dann können wir uns endlich eurem Hochzeitsmahl und diesen knusprigen, kleinen Vögeln widmen. Auf euch, meine Lieben!«
Rhonan warf Caitlin einen kurzen Seitenblick zu, doch die stieß ihren Becher in die Höhe, so dass der Wein schwappte. »Auf uns!«
Das Mahl verlief sehr vergnüglich, vor allem, weil Caitlin in Hochstimmung war und mit Gideon immer lustigere Anekdoten austauschte.
Lautes Gelächter hallte durch den Eispalast, und als man sich endlich erhob, um schlafen zu gehen, gab Gideon zu, dass sein Kiefer von all dem Lachen schmerzte.
Die strahlende Priesterin gab ihm einen Gute-Nacht-Kuss auf die Wange und stellte sich vor Rhonan. »Du darfst mich in mein Zimmer tragen.«
»Warum? Du bist heute doch nicht betrunken«, gab der zu bedenken.
Sie kicherte. »Nein, aber faul! Das war der erste Teil unserer Abmachung. Fällt es dir wieder ein?«
Er erinnerte sich dunkel daran, dass sie vom Tragen gesprochen hatte, aber als Teil einer Abmachung …? Um sie nicht zu verärgern, nickte er, packte sie unter Achseln und Schenkeln und hob sie auf den Arm. Heute machte sie keinerlei Anstalten, sich auf dem Gang durch die Flure festzuklammern, sondern gähnte nur herzhaft.
Die Kellings öffneten die Zimmertür, und Rhonan blieb wie angewurzelt auf der Schwelle stehen. Sein Wandersack lehnte an der Wand, sein Waffengürtel lag auf einer Truhe, und ein Nachthemd, das er nie trug, das die Kellings aber hartnäckig auf sein Bett legten, lag neben einem zarten Gespinst, das wohl Caitlins Nachtgewand war.
»Geh doch weiter, dann könnten wir die Tür schließen«, flötete seine schöne Last.
Er ging drei Schritte, stieß die Tür mit dem Fuß zu, setzte sie ab, öffnete den Mund, schloss ihn wieder, schüttelte den Kopf und fuhr sich endlich durchs Haar, während sie schon ihr Haarband löste und aus den Schuhen schlüpfte.
»Gideons Geschichte von diesem dicken Verianer, der beim Lauschen im Fenster stecken blieb, war zu lustig, nicht wahr?«
»Ja! … Caitlin …«
»Also, so was! Schau mal: Ich hab eine Druckstelle am Fuß. Erinnere mich daran, dass ich diese Schuhe nicht mehr trage! Schade eigentlich! Sie sind so hübsch, aber wohl ein bisschen eng.«
»Ja! … Caitlin …«
»Willst du dich gar nicht ausziehen?«
»Nein … ich …«
»Du willst in Kleidern und Stiefeln schlafen?«
Ihre Augen funkelten übermütig, und er schluckte. »Natürlich nicht, aber auch nicht hier.«
Sie legte den Kopf schräg und fragte verwundert: »Wo sollen wir denn sonst schlafen?«
»Du hier, ich in meinem Zimmer.«
»Aber Rhonan! Das würde sich nicht schicken. Du pochst doch so auf die Einhaltung der guten Sitten, und Ehepaare schlafen nun einmal zusammen. Was sollen denn die Schwestern denken? Aber ein wenig Übung haben wir ja schon … wegen der Körperwärme. Kannst du mir das Kleid öffnen? Die Häkchen sind dummerweise hinten. Oder soll ich die Kellings rufen?«
»Nein, das geht schon.« Ungewohnt steifbeinig trat er hinter sie und nestelte ungeschickt an winzigen Haken und Ösen. »Wir sind niemandem Rechenschaft schuldig.«
»Du vielleicht nicht, aber mich wird Myria zur Rede stellen. Was soll ich denn sagen, warum wir geheiratet haben? Sie wird schäumen vor Wut, wenn sie merkt, dass wir
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