Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
waschen zu müssen. Er berichtete von solch ungeheuerlichen Greueltaten an der Bevölkerung, dass mir der Schweiß ausbrach.«
Er machte eine kleine Pause, bevor er ergänzte: »Umso mehr wegen der Tatsache, dass Kambala freiwillig die Stadttore geöffnet hatte. Die Stadt hatte sich ergeben und wurde dennoch geschleift. Ich will, dass der Barde heute Abend hier vorträgt und dass Eure Schauspieler seinen Vortrag unterstützen.«
Der Theatermeister wurde blass und klammerte sich an den Tisch in seinem Rücken. »Die Menschen wollen sich unterhalten, mein Prinz! Sie wollen sich doch gerade ablenken von den Schrecken des Krieges.«
Sein Gegenüber verzog keine Miene, als es erwiderte: »Wie sollen sie sich davon ablenken wollen, wenn sie sie noch nicht einmal erahnen, geschweige denn kennen, diese Schrecken? Meister Rolof, ich habe eine Stadtmauer, die nahezu viertausend Pferdelängen misst, und ich habe zurzeit noch nicht einmal zweitausend Mann zur Verteidigung. Das kommt Euch sicher auch dürftig vor, oder? Ich benötige Hilfe, und die benötige ich schnell. Meine Männer sind mit der Befestigung der Stadt und der Unterweisung der Freiwilligen beschäftigt. Ich kann niemanden entbehren, der durch die Stadt zieht und die Menschen notfalls mit Gewalt dazu bringt, uns zu unterstützen. Ich rechne damit, dass die Horden in drei, allerhöchstens fünf Tagen hier sind. Die Königin kommt aber frühestens in sechs Tagen, hoffentlich zusammen mit den Flammenreitern. Ein bis zwei, vielleicht sogar drei Tage werden wir die Horden also hinhalten müssen; vier- bis fünftausend Krieger, die wild entschlossen sind, diese Stadt einzunehmen, bevor unsere Verstärkung eingetroffen ist, Krieger, die brandschatzen, plündern, verstümmeln, vergewaltigen und morden. Wenn wir diese Zeit nicht überstehen, werden Eure Schauspieler heute Abend ihre letzte Vorstellung gegeben haben. Camora soll dem Theater nicht besonders zugetan sein. Sämtliche Aufrufe haben bisher wenig Erfolg gehabt, weil die Bevölkerung die Gefahr einfach nicht begreifen will. Das wird sich durch den Vortrag des Barden ändern. Wenn er sie nicht erreichen kann, dann ist dieser Stadt wirklich nicht mehr zu helfen. Heute Abend sitzen die wichtigsten Bürger Mar’Elchs hier zusammen. Wenn sie begreifen, werden ihnen die anderen folgen. Werdet Ihr mir helfen?«
Der Theatermeister war immer bleicher geworden und nickte jetzt sofort. »Wozu braucht Ihr Euren Barden? Mich habt schon Ihr allein überzeugt. Ich melde mich morgen zu den Waffen. In meiner Jugend war ich ein gar nicht mal so schlechter Fechter.«
Nachdem sich jedoch der Barde zu ihnen gesellt hatte, änderte er seine Meinung. Dieser Meister seines Faches verstand es in der Tat, einem durch bluttriefende Erzählungen und düstere Lieder das Blut in den Adern gefrieren zu lassen.
Canon verabschiedete sich möglichst bald, um weiter seinen Aufgaben nachgehen zu können. Außerdem hoffte er, etwas von Derea zu hören. Sosehr er auch davon ausging, dass es richtig war, dass sein Bruder nach Kairan ging, sosehr ängstigte ihn dieser Gedanke. Sie waren schon so oft auf unterschiedlichen Schlachtfeldern gewesen, aber diesmal hatte er zum ersten Mal Angst, er könnte seinen kleinen Bruder nicht wiedersehen.
3. Kapitel
F ür die Siegelerben war die Zeit des Aufbruchs gekommen.
Gideon hatte Caitlin gefragt, ob sie nunmehr nicht in der Lage sei, Portalsteine zu benutzen, um die Reise einfacher zu gestalten.
Sie hatte mit hochgezogenen Brauen erwidert: »Selbstverständlich kann ich jetzt auch die uralte Magie der Druiden beherrschen. Nur gibt es hier keinen Stein, von dem aus wir reisen könnten. Der nächste mir bekannte Stein befindet sich in Kairan, im Kerker von Vater Ligurius. Von dort aus könnten wir zur Nebelinsel, nach Kambala oder nach da’Kandar reisen. Mehr Steine der Druiden sind meines Wissens noch nicht gefunden worden, und die, die wir kennen, befinden sich alle in Feindeshand. Myria sagte, es könnte sich auch ein Stein in der Zitadelle der Träume befinden, wusste das allerdings nicht genau. Meine Mutter hat einmal lange und vergeblich nach einer Priesterin gesucht, die offensichtlich einen Stein vermutete, wo keiner war.«
Nach dieser Auskunft war es nicht verwunderlich, dass sie sich entschlossen, den Rückweg zu Fuß anzutreten.
Das Gepäck stand bereit, und gerade hatten sie das letzte Nachtmahl zu sich genommen. Morgen wollten sie sich auf den Weg machen. Gideon und Caitlin dachten mit
Weitere Kostenlose Bücher