Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
wirklich nicht beklagen. Ich habe nur eine kleine, aber eine sehr gute Familie. Ich habe Canon, der sich immer um mich gekümmert hat, wenn Mutter auf einem ihrer Feldzüge war. Und Königin Morwena ist die beste Mutter, die ich mir vorstellen kann. Ich bin mehr als dankbar dafür, dass sie uns aufgenommen hat. Stellt Euch vor: Sie hätte seinerzeit für einen Gefallen von Ayala eine seltene Pflanze haben können, aber sie hat uns genommen. Mutter erzählte, Ayala hätte ihre Wahl sehr merkwürdig gefunden und war wohl versucht, ihr noch ein kleines Blümchen dazuzugeben.«
Er überging ihr Kichern und fuhr fort: »Ich glaube, nein, ich weiß, ich habe eine glückliche Kindheit gehabt. Manchmal da habe ich ein schlechtes Gewissen Canon gegenüber. Schließlich ist er ja nur knappe zwei Jahre älter als ich. Aber der lacht immer nur, wenn ich mit ihm darüber sprechen will. Er sagt, es hätte ihm Spaß gemacht, mich zu erziehen, obwohl man an dem Ergebnis sehen könnte, dass er nicht viel Übung darin gehabt hätte.«
Marga lächelte ihn warmherzig an. »Ich finde das Ergebnis jedenfalls sehr liebenswert.«
»Ein liebenswerter Hauptmann? Hoffentlich ist unser General damit zufrieden? Aber für ihn kann ich ja mal wild gucken. Das kann ich auch, wenn ich in Stimmung bin. Ihr würdet staunen.«
Sie ging nicht darauf ein. »Ihr liebt Eure Familie sehr, nicht wahr?«, fragte sie stattdessen.
»Ja«, erwiderte er schlicht, und Marga seufzte auf.
»Es klingt so warm, wie Ihr das so selbstverständlich sagt. Meine Mutter starb, als ich noch sehr klein war. Ich kann mich gar nicht mehr an sie erinnern, und mein Vater hatte nur selten Zeit für mich und selbst dann eigentlich immer etwas anderes im Kopf.«
Er nickte. »So war das auch bei Mutter! Canon und ich, wir wuchsen auf wie Prinzen, aber sie selbst war ständig irgendwo mit irgendwelchen Kämpfen beschäftigt. Wenn sie dann mal da war, hat sie sich immer zuerst um uns gekümmert. Während sie aß und trank, erzählten wir ihr von unseren Erlebnissen, Erfolgen und Misserfolgen. Sie hörte zu, lobte oder gab Ratschläge. Wenn wir dann abends am Kamin saßen, erzählte sie uns nächtelang von Schlachten und Kriegstaktiken. Vielleicht nicht unbedingt Gute-Nacht-Geschichten für Kinder, aber sie hat sich für uns Zeit genommen. Sie hat uns gegeben, was sie konnte – mehr ließ der Krieg nicht zu.«
»Ja, die Zeiten sind nicht eben geschaffen für Familienglück. Die meisten Menschen in unserem Haushalt kannte ich besser als meinen Vater. Versteht mich nicht falsch! Er liebt mich, aber es fällt ihm schwer, mir das zu zeigen.«
»Ja, manche Menschen sind schon seltsam, wenn es um Gefühle geht«, stimmte Derea sofort zu. »Versteht jetzt mich nicht falsch, aber Euer Vater ist mir tatsächlich immer sehr kühl vorgekommen. Vielleicht liegt das aber auch nur daran, dass er mich wohl nicht sonderlich leiden kann. Zumindest habe ich immer das Gefühl, er würde mich am liebsten aus dem nächsten Fenster werfen.«
»Das könnte sogar stimmen. Er hält Euch für einen reinen Bruder Leichtfuß.«
»Mich?« Die Stimme klang so ungläubig, dass Marga erneut auflachte.
Der General kniff die Lippen zusammen. Marga, die ihm bisher so vernünftig erschienen war, kicherte schon wieder wie ein Mädchen, das noch von der Kinderfrau betreut wurde. Sein merkwürdiger Sohn hatte offensichtlich großen Einfluss auf seine Umgebung. Vielleicht hatte er sich doch nicht die richtige Begleitung ausgesucht.
2. Kapitel
W ie Tage zuvor Ten’Shur, bereitete sich jetzt Mar’Elch auf Camoras Horden vor.
Die Städte waren allerdings kaum vergleichbar: Im Westen der Hauptstadt, angeschmiegt an hohe Berge, ragte die Burg Morwenas empor. Die Stadt erstreckte sich weitläufig in alle anderen Himmelsrichtungen. In Ten’Shur waren die meisten Häuser aus Holz, hier wurden lediglich Stallungen damit gebaut. Neuerdings kalkten einige Einwohner ihre Häuser sogar weiß, damit es vornehmer aussah. Säulen zierten Eingänge, Ornamente schmückten Fassaden. Watete man in Regenzeiten in Ten’Shur durch Schlamm, schritt man hier über Steinpflaster. Pferde, Kutschen und Sänften bestimmten das Stadtbild.
Mar’Elch war die Stadt der reichen Händler, der Pferdezüchter und der Künstler. Hier liebte man Triumphzüge und man liebte das Theater. Bewohner El’Marans, die Wert auf die feinen Künste legten und die es sich leisten konnten, lebten in der Reichsstadt. Während in Ten’Shur jeder bereit
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