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Das wandernde Feuer

Titel: Das wandernde Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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unsichtbar durch den Fadenlauf des Webers am Webstuhl zogen, und sie mussten darauf vorbereitet sein, das Unerklärliche zu sehen.
    Sie aber war darauf gefasst, auf dieses Bild einer Insel, klein und grün, in einem stillen See, blank wie Glas im Licht einer tiefstehenden, soeben aufgegangenen Mondsichel. Eine Szene von so außerordentlicher Friedlichkeit, dass sie noch vor einem Jahr geweint hätte angesichts der Verheerung, die sie anrichten würde, wenn sie dorthin kam.
    Nicht nur vor einem Jahr, nicht einmal so lange. Doch, oh, sie hatte sich verändert, und obwohl der Kummer tief in ihrem Innern festsaß – tief wie ein Felsen war er, und ebenso dauerhaft –, war doch die Not zu groß und die Verzögerung zu lang, als dass sie sich den Luxus erlaubt hätte, den Tränen bedeuteten.
    Sie erhob sich aus ihrem Bett. Der Kriegsstein flackerte, strahlte gedämpftes, ahnungsvolles Licht aus. Schon bald würde er auflodern, wusste sie, Feuer würde sie an ihrer Hand tragen. Auf der Küchenuhr sah sie, dass es vier Uhr morgens war. Und obendrein sah sie Jennifer am Tisch sitzen, und den Kessel, in welchem gerade das Wasser zu kochen begann.
    »Du hast geschrien«, wandte sich Jennifer an sie. »Ich habe mir gedacht, nun passiert etwas.« Kim setzte sich auf einen der anderen Stühle. Sie zog den Gürtel ihres Morgenmantels fester. Es war kühl in der Wohnung, und ihre Wanderungen hinterließen bei ihr jedes Mal das Gefühl zu frieren.
    »Du hattest recht«, gab sie müde zu. »Du weißt, was du zu tun hast?«
    Sie nickte.
    »Ist alles in Ordnung?«
    Sie zuckte die Achseln. Zu schwer zu erklären. Seit einiger Zeit hatte sie viel Verständnis für die Gründe, aus denen Ysanne sich in die Einsamkeit an ihren See zurückgezogen hatte. Es gab zwei Lichtquellen im Raum; eine über dem Herd und die andere an ihrer Hand.
    »Wir sollten die anderen zusammentrommeln«, schlug sie vor. »Das hab’ ich schon getan. Sie werden bald hier sein.«
    Kim warf ihr einen strengen Blick zu. »Was habe ich im Schlaf gesprochen?«
    Jennifers Augen blickten wieder voller Güte; so war es seit Dariens Geburt. »Du hast gerufen, man solle dir vergeben«, antwortete sie. Die Toten würde sie aus ihrer Ruhe reißen, und die Untoten in ihr Verderben.
    »Da hab’ ich wohl herzlich wenig Chancen«, sagte Kimberly.
    Es klingelte an der Tür. Einen Augenblick später waren sie alle um sie herum versammelt, besorgt, zerzaust, verschlafen. Sie blickte zu ihnen auf. Sie warteten, doch das Warten war vorüber, sie hatte eine Insel gesehen und einen See wie Glas.
    »Wer kommt mit mir nach England?« fragte sie, mit spröder, gespielter Heiterkeit in der Stimme.
     
    Alle wollten sie mitkommen, wie es schien. Selbst Dave, der seinen Kanzleijob tatsächlich kündigen musste, um innerhalb von vierundzwanzig Stunden zur Verfügung zu stehen. Noch vor einem Jahr hatte er einen Stapel Arbeitspapiere zum Thema Beweisführung nach Fionavar mitgeschleppt, so sehr war ihm daran gelegen, als Jurist erfolgreich zu sein. Er hatte sich sehr verändert, sie alle hatten sich verändert. Nachdem sie gesehen hatten, wie der Rangat seine unheilvolle Hand erhob, wie hätten sie anders gekonnt, als alles Übrige für unwesentlich zu halten?
    Und doch, was konnte unwesentlicher sein als ein Traum? Und ein Traum war es doch, der die vier veranlasst hatte, sich mit ihr zusammen in die Boeing 747 nach London zu stürzen und mit einem in Heathrow gemieteten, von Kevin Laine riskant und mit viel zu hoher Geschwindigkeit gesteuerten Renault nach Amesbury in der Nähe von Stonehenge zu rasen.
    Kevin war gehobener Stimmung. Endlich erlöst aus dem Zustand des Abwartens – monatelanges Vortäuschen von Interesse an den Lehrgängen Steuerrecht, Grundbesitz und Zivilprozeßführung, die seiner Zulassung als Anwalt vorausgingen –, ließ er den Wagen über eine Kreuzung mit Kreisverkehr schießen, ohne auf Daves Aufschrei zu achten, und brachte ihn mit quietschenden Reifen vor einem uralten Hotel und Wirtshaus zum Stehen, das, wie konnte es anders sein, The New Inn hieß. Es musste einfach so heißen; sie waren schließlich in England.
    Er und Dave kümmerten sich um das Gepäck – keiner hatte mehr dabei als eine Reisetasche –, während Paul das Anmeldeformular ausfüllte. Auf dem Weg nach drinnen kamen sie am Eingang zur Bar vorbei. Ziemlich voll um die Mittagszeit, aber Kevin erhaschte einen Blick auf ein hübsches, sommersprossiges Mädchen, das hinter der Theke

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