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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Rohn
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nicht selbst gab.
    Meine Schritte wurden immer schwerer und schmerzhafter, während ich den schmalen Weg auf dem Deich entlanglief, doch ich konnte nicht umkehren. Ich dachte an Hedda, an ihren Geruch und daran, dass sie nun verzweifelt wartend neben dem Telefon saß.
    Ein Vogel flog durch die Nacht, ein blasser Schemen, der über dem See kreuzte. Ich hätte Licht nicht erkannt, wenn er nicht plötzlich seinen typischen heiseren Laut ausgestoßen hätte.
    Mein Herzschlag beschleunigte sich von einer Sekunde auf die nächste. »Licht!«, schrie ich und fuchtelte mit den Armen, wie ein Schiffbrüchiger auf seiner einsamen Insel,an dem ein großes Segelschiff vorüberzog. »Licht, alter Freund!«
    Der Fischreiher krächzte wieder und stürzte in die Dunkelheit davon. Ich bildete mir ein, dass er mich erkannt und geantwortet hatte, auch wenn mich jeder Biologe dafür ausgelacht hätte. Licht konnte wieder fliegen; das war das eine große Glück, doch was machte er hier auf der anderen Seite des Sees? Konnte auch der Junge in der Nähe sein?
    Ich schöpfte neuen Mut, machte ein paar leichtere Schritte und horchte in die Dunkelheit hinaus. So bewegte ich mich eine Zeit lang vorwärts: einige Meter gehen und lauschen, gehen und lauschen.
    Lichts heisere Schreie kehrten nicht zurück, einmal nur meinte ich, sie weit in der Ferne zu hören. Er war anscheinend auf der Jagd; hoffentlich schaffte er es, genug Nahrung zu finden, um bei diesen Temperaturen nicht zu verhungern. Morgen, nahm ich mir vor, würde ich ihm ein paar Fische in den Garten werfen.
    Morgen? Wann war morgen? Eine Ewigkeit würde vergehen, bis der nächste Tag anbrach. Ich ging immer weiter, nein, eigentlich humpelte ich nur noch, weil mein rechtes Knie keine normale Bewegung mehr gestattete. Gelegentlich drang ein Rascheln aus dem Schilf am See, wenn ein wenig Wind aufkam, oder vielleicht krochen auch Nachttiere durch das Unterholz. Ansonsten war alles so still, als würde ich durch Watte laufen. Zeit und Raum hatten aufgehört zu existieren; da war nur noch Dunkelheit, die mich umgab, und abgrundtiefe Stille.
    Ich setzte mich für ein paar Minuten, kühlte mein Knie mit einer Hand voll Schnee und zog mein winziges Telefon hervor. Der Empfang war deutlich schwächer geworden,aber noch würde er reichen, dass ich Hedda bitten konnte, mich abzuholen. Ein kurzer, unspektakulärer Anruf und ein Eingeständnis, dass ich in dieser Finsternis nichts ausrichten konnte. Sie müsste lediglich der Straße um den See folgen; die Scheinwerfer ihres Wagens würde ich auch bei diesem Nebel nicht übersehen, so dass ich sie ohne Schwierigkeiten zu mir dirigieren könnte. Den Rest würden wir der Polizei überlassen. Nein, sagte ich mir, auf keinen Fall; so ein Anruf wäre eine weitere Niederlage gewesen.
    Dann, als ich wacklig wieder auf den Beinen stand und noch keinen Schritt gemacht hatte, glaubte ich erneut, Licht zu hören, er schien ganz tief über dem See dahin zu segeln, als müsste er seine neue Freiheit erproben. Doch im nächsten Moment gesellte sich zu seinem Krächzen ein anderes Geräusch: Ein leiser erbärmlicher Ruf schallte durch die Finsternis. Ohne nachzudecken, mit wild klopfendem Herzen, hinkte und stolperte ich den Deich hinunter und versuchte herauszufinden, ob ich mir nur etwas eingebildet hatte. War ich schon so entkräftet, dass sich eine Stimme in meinem Kopf breit machte, um mich in die Irre zu fahren? Nein, da rief jemand nach dem Vogel, aber nicht vom Ufer des Sees, sondern ein Stück abseits von der Straße aus.
    »Mark!«, rief ich. »Mark, hörst du mich!« Schrill und zerrissen klang mein Schrei durch die Nacht.
    Licht war verschwunden; ich hatte ihn vertrieben, jedenfalls war sein Krächzen nicht mehr zu hören.
    »Mark!«, schrie ich. »Wo bist du? Wir machen uns Sorgen um dich.«
    Niemand antwortete mir. Machte ich einen Fehler? Veranlasste ich den Jungen nur zur Flucht, nun, da ich anscheinendin die Nähe seines Verstecks geraten war? Ich zitterte vor Anstrengung und spürte, wie meine Stimme bebte.
    »Deine Mutter möchte, dass du nach Hause kommst.«
    Dann hörte ich den leisen, jämmerlichen Ruf wieder, doch nun galt er mir. »Hier«, rief eine kraftlose Stimme. »Ich bin gestürzt.«
    Ich stolperte den Deich hinunter, mitten hinein in die Dunkelheit. Über gefrorenen, unebenen Boden hinkte ich, verlor beinahe den Halt, dann geriet ich auf eine vereiste, holprige Schotterstraße. Ich konnte bestenfalls drei, vier Meter weit sehen.

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