Das Winterkind
1. Dezember
Am 24. Dezember werde ich mich umbringen. Dieser Entschluss kam heute morgen zu mir, ganz leicht, so als hätte er Flügel. Ich werde es mir bequem machen, keine Eile oder Aufregung an den Tag legen. Vielleicht lasse ich Musik spielen oder höre die Kirchenglocken, die friedlich aus dem Dorf herüberklingen, und denke einen letzten Gedanken, der nur ein Name ist oder ein vergeblicher Wunsch. Und dann werde ich mir die Pistole an die Schläfe setzen. Kalt und fremd wird sie sich an meiner Haut anfühlen, und auch wenn ich ein wenig Angst habe, in ein tiefes Dunkel zu stürzen, werde ich nicht zögern.
In der Nacht hat der Regen begonnen. Wenn es in dieser Gegend regnet, so bleibt der Regen über Wochen, nistet sich ein mit seiner scheußlichen, grauen Kälte. Ich erwachte kurz nach zwei Uhr, weil die ersten Tropfen von einem Holzsparren auf den Boden fielen. Das Dach war undicht. Ich hätte mir denken können, dass sich in den vergangenen Jahren kein Mensch vernünftig um das Haus gekümmert hat. Meine Anweisungen waren wieder nur halbherzig befolgt worden. Lediglich ein Gärtner war manchmal aus dem Dorf gekommen, hatte den Rasen gemäht und die Hecke geschnitten. Das Haus selbst roch muffig, als hätte hier in den letzten Jahren niemand auch nur ein Fenster geöffnet. Das Bettzeug war feucht, und in den Schränken schimmelten die letzten Lebensmittel vorsich hin. Ich hatte einen ganzen Tag gebraucht, um das Haus wieder einigermaßen bewohnbar zu machen. Ein Telefon hatte mein Vater hier nie installieren lassen, aber immerhin gab es Strom. Niemand würde mich finden.
Der Regen brachte mich um den Schlaf. Ich lag da und lauschte dem rhythmischen Tropfen. Ansonsten war alles still. Nicht einmal das Geräusch eines Zuges oder eines Autos war zu hören. So viel Stille war ich nicht mehr gewöhnt, aber dann fielen mir die Tage vor fast vierzig Jahren ein, die ich mit meinem Vater in diesem Haus verbracht hatte. Damals hasste ich das Haus, während er es liebte, sich hierhin zurückzuziehen und nachzudenken. Er hockte am Fenster, blickte zum See hinaus und rauchte eine dicke Zigarre nach der anderen. Niemand, der ihn auf seine Einladung oder besser auf seinen Befehl hin ins Haus begleitete, durfte das Wort an ihn richten. Man musste dasitzen, ihn anschauen und warten, dass er zu sprechen begann. Mein Vater beherrschte das Schweigen wie eine Kunst, ein hartes, herrisches Schweigen; es konnte eine Weile dauern, bis er anfing zu reden, und viele seiner Angestellten hat er in Grund und Boden geschwiegen. Er hat sie auf die Probe gestellt. Wer sein Schweigen nicht aushielt, würde auch sonst schnell die Nerven verlieren. Die Geschichte des Kakaos hat er mir in diesem Haus erzählt und wie er zum ersten Mal nach Südamerika geflogen war und eigenhändig Kakaobäume angepflanzt hatte. Niemand in Europa war damals auf die Idee gekommen, eigene Plantagen anzulegen. Mein Vater hatte in seinen Visionen geschwelgt, warum die Menschen sich bald nichts sehnlicher wünschen würden als gute Vollmilchschokolade, aber am Ende seines Monologs musste ich mir meistens seine Kriegserlebnisse anhören, endlose, ausschweifendeBeschreibungen, wie man ihn aus einem brennenden Panzer gezogen hatte und warum er nicht gestorben war, obwohl doch die Haut an seinen Beinen vollkommen verbrannt war. »Ich hatte ein paar Rezepte im Kopf«, sagte mein Vater. »Rezepte für die beste Schokolade der Welt.«
Ich zog mich an und ging zum See hinunter. Der Regen hier ist heimtückisch. Er ist so fein, dass er einem rasch in die Kleider kriecht. Noch bevor ich am Ufer angekommen war, hatte ich das Gefühl, nass bis auf die Haut zu sein. Kein Licht schwebte über dem See. Eine stille, feuchte Dunkelheit hüllte alles ein. So ähnlich mussten die Menschen sich im Mittelalter das Ende der Welt vorgestellt haben: Sie standen da, auf dem letzten verlässlichen Flecken Erde, und blickten über das Wasser in eine schwarze, Furcht erregende Unendlichkeit.
Mich fror. Den Tod stelle ich mir warm vor, vielleicht riecht er auch ein wenig süßlich, wie flüssige, heiße Schokolade, bevor sie in die Abfüllrohre läuft und zu Tafeln gepresst wird.
Vermutlich fror ich aber auch nur, weil ich nutzlos geworden war. Keine Sekretärin wartete auf mich, kein Fahrer holte mich ab, keine Termine mehr. Die Türen haben sich endgültig hinter mir geschlossen.
Als es langsam heller wurde und sich ein grauer Schleier über den See legte, sah ich, wie ein Fischreiher
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