Das Wolkenzimmer
könnte.
Ihre Knie kommen langsam zur Ruhe und lassen sich endlich auch wieder halbwegs einrasten. Veronika testet als Nächstes ihre Stimme.
»Ich hab nicht bezahlt«, krächzt sie.
Was für eine Verkleidung er trägt. Mittelalterlich, ein Hemd mit weitem Kragen, eine Kniehose, ein Leibchen oder wie man das nennt. Ein Türmer in Tracht. Ein grauer Turm mitten in einer kreisrunden Stadt. Eine mörderische Höhe. Und eine Angst wie noch nie im Leben.
Dass sie den Mund aufgebracht hat, dass sie schon wieder reden kann! Dass sie überhaupt noch einmal redet, war nicht vorgesehen.
»Wer hinaufrennt wie Sie, Lady...«, sagt der Türmer nach einer geraumen Weile. Er sagt es in den leeren Raum hinaus und eine Antwort ist es sowieso nicht. »Wer so hinaufrennt, ist entweder ein Turmläufer...«
Veronika wartet.
»Oder...« Der Türmer streicht mit seinen Händen über die Balustrade. »Nun, er prallt zurück. So ist das.« Aus der verwitterten Oberfläche des Steins löst sich ein Krümel und er nimmt ihn zwischen zwei Finger. Ein schwindelfreier Mensch könnte auf dieser Balustrade stehen, unter seinen nackten Sohlen wäre es vermutlich rau und warm. Aber Veronika glaubt nicht, dass es einen solchen Menschen gibt.
»Kommt vor, alle paar Jahre einmal, dass einer nicht zurückprallt«, sagt der Türmer. Er betrachtet den Krümel aus der Nähe und steckt ihn ein. »Man sieht es ihm an.«
Eine merkwürdige Stille ist das hier; das Brummen der Autos auf der Umgehungsstraße ist weit weg und überhaupt: Unten ist unten. Oben ist oben. Veronika schaut in den Himmel, wo ein weißer Kondensstreifen langsam zerfließt. Ein Vogel zieht lautlose Kreise, ohne Flügelschlag, als wäre das nichts, zehn Meter höher, hundert Meter tiefer.
Vor ihr der Rücken des Türmers.
»Woran sieht man’s?«, fragt sie.
Der Türmer sieht den Kondensstreifen an. Oder den Vogel. Oder ein Abendwölkchen.
»Woran?«, wiederholt sie.
Sie wartet umsonst. Die nasse Hose fühlt sich furchtbar an, und Veronika faucht plötzlich: »Was ist? Muss ich jetzt bezahlen oder nicht?«
»Bezahlen«, sagt der Türmer. Er wiegt das Wort auf der Zunge. »Bezahlen. To pay - or not to pay.« Er pickt noch ein Krümelchen aus dem porösen Stein und steckt es wieder in die Tasche.
Ihr Zorn ist an ihm abgeprallt. Veronika würde gern an der warmen Mauer hinunterrutschen und den Kopf in den Armen vergraben. Aber sie bleibt stehen, weil sie sich nicht einmal dazu entschließen kann. Die Hose ist kaum das Schlimmste, das ihr heute passiert ist. Auch nicht dieser Neunmalkluge an der Balustrade, der in den Himmel redet. Mit englischem Akzent. Als gehörte Veronika zu der japanischen Reisegruppe, zu diesen Intelligenzlern auf Studienreise, die scharenweise aus dem Turm kamen, bevor sie hineinkonnte.
»Sie müssen nicht auf Englisch machen, für mich nicht«, sagt sie. Lächerlich, in einer deutschen Kleinstadt.
Über ihr tut es drei helle, schnelle Glockenschläge.
Ding-ding. Ding-ding. Ding-ding.
Der Türmer dreht sich um. Er schaut Veronika von oben bis unten an und bemerkt auch ihre Hose. »Zeit zu gehen, Lady. Ich schließe jetzt den Turm«, sagt er.
Veronika verzieht das Gesicht. Hat er nicht gehört, was sie von seinem affigen Akzent hält? Und eine Lady ist sie auch nicht. »Wenn ich aber nicht will?«, sagt sie.
»Sie wollen. Nachts gefällt es Ihnen hier nicht.« Er zeigt mit dem Kinn zur Seite, wo nichts ist als der schmale, steinerne Balkon, der rund um den Turm führt. Kein Ort für die Nacht, unter normalen Umständen, da hat er recht.
»Und wenn ich bezahle?« In der Dunkelheit findet sie vielleicht auf ihre Zielgerade zurück. Sie kann sich beim besten Willen kein anderes Wohin denken.
»Nein«, sagt der Türmer mit einer unmissverständlichen Bewegung zur Tür hin.
Veronika gibt auf; sie ordnet sich dem fremden Willen unter, ihr eigener ist unzuverlässig geworden. Sie geht hinein und die Stufen hinab, in vorsichtigen, zimperlichen Schritten, wegen der Hose. Eine Etage, dann sind sie wieder da, wo sie den Türmer zuerst gesehen hat. Ihr Reisesack, der eigentlich ein Yogasack ist, für Matte und Handtuch gedacht, ist weg. Der Türmer bückt sich hinter seine Theke und holt ihn von dort.
»Nick«, sagt er kühl und reicht ihr den Sack.
Sie zuckt zusammen. Nick ist Mattis’ Name für sie; Mattis war es auch, der die Buchstaben auf die Taschenklappe des Yogasacks geschrieben hat, mit einem Leuchtmarker. In einem unbeschwerten, glücklichen
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