Das Wolkenzimmer
an. Dann macht er die höfliche Armbewegung, die einem sagt, man ist entlassen, man soll jetzt verschwinden.
Auf dem Platz sind Abendbummler, hauptsächlich Paare. Und eine Gruppe Radwanderer. Sie studieren Karten oder Fassaden, die Fassadengucker nuckeln an Plastikflaschen.
Der Türmer geht ein paar Schritte auf den Platz hinaus. Dort steht eine Anzeigentafel, die Touristen auf den Turm locken soll. Er macht ein loses Blatt wieder fest und klappt dann die Tafel zusammen. Bevor er sie in den Turm trägt, sucht er mit den Augen Veronika unter den Abendbummlern. Aber er findet sie nicht.
Um sie zu sehen, müsste er woandershin schauen. Zu einem Spitzbogenfensterchen hinter sich und zehn Meter höher. Veronika wird warten, bis der Türmer mit seiner Tafel im Turm angekommen ist. Wahrscheinlich lehnt er sie am Fuß der Wendeltreppe gegen die Wand, einen anderen Platz gibt es nicht. Dann wird er die Tür versperren und endlich nach Hause gehen. Auf der Tafel steht, dass der Turm von neun bis zwanzig Uhr geöffnet ist. Elf Stunden Dienst, da hat er sich den Abend verdient und kann sich eine amerikanische Talkshow reinziehen, um seinen Akzent zu pflegen.
Bis er weg ist, wird Veronika still wie ein Turmgespenst sein. Aber danach gehört ihr der Turm und sie kann ihn zum Beispiel genau bei Sonnenaufgang verlassen. Sie hat bis zum Morgen Zeit, sich immer wieder auszumalen, wie sie ihn verlässt. Da sollte es möglich sein, sich an die Vorstellung zu gewöhnen. Bei Sonnenaufgang, das findet Veronika eine gute Zeit.
2
Der Türmer trägt die zusammengeklappte Tafel hinein. Danach steht er im Turmeingang, im Schatten des tiefgezogenen Vordachs. Er folgt für eine Weile mit müßigen Augen den Paaren und Gruppen, die über den abendlichen Marktplatz bummeln. Radfahrer rasten unweit von ihm, sie schauen sich die historischen Fassaden an. Ihre Räder sind mit buntem Gepäck beladen. Das Mädchen, das der Türmer mit den Augen sucht, ist verschwunden, samt Reisesack.
Zwei Männer spazieren über den Platz und unterhalten sich angeregt. Einer sieht her und hält kurz inne, als käme ihm der Turm als Ziel in den Sinn oder vielleicht auch der Türmer, als könnte er Lust bekommen auf eine kleine Plauderei, es ist der Archivar der Stadt.
Der Türmer tritt ohne Hast zurück ins Halbdunkel des Turms und schließt die Tür von innen. Er steckt den schweren Schlüssel ins Schloss und dreht ihn zweimal um. Dann hakt er den klirrenden Bund wieder an den Gürtel, mit der Selbstverständlichkeit eines Menschen, der seine Haustür für die Nacht abgeschlossen hat. Er macht sich auf den Weg nach oben, Schritt für Schritt, Stufe für Stufe, die Hand am Geländer, er hat keine Eile.
Der Turm wird seit Jahrhunderten für Allgemeinbesitz gehalten und gehört doch nicht allen. Er ist der Ort eines einzigen Menschen. Viele Füße stapfen täglich hinauf, nehmen aber auch wieder den Weg nach unten; viele Neugierige kommen und gehen, und der Türmer teilt seinen Turm mit ihnen, sammelt Bonbonpapier und Taschentücher auf und gibt Auskunft, wenn danach verlangt wird. Doch nachts lebt er in völliger Intimität mit dem Turm, in der stillen, gewaltigen Röhre, dem Luftraum, den Menschen früherer Zeiten aus der Atmosphäre geschnitten haben, indem sie den Turm wie einen Bohrer in die Höhe trieben, nachts ist der Türmer abgeschieden von aller Welt, allein mit den kühlen Mauern, dem Pochen im Holz und dieser Luft, die anders ist als jede Luft draußen.
Den Leuten ist das nicht bewusst. Sie kommen und schauen und gehen wieder. Manchmal allerdings stören sie. Das Mädchen heute, Nick. Oder Veronika. Sie ist noch nicht gegangen. Er hat sie zwar hinausbegleitet, und wer weiß, wo sie jetzt ist und was sie macht, aber aus seinem Kopf ist sie noch nicht verschwunden. Aus dem Herzen, korrigiert sich der Türmer mit einem Anflug von Zorn. Das Herz folgt einer anderen Logik. Der Kopf orientiert sich über Auge und Ohr, ordnet die Menschen ein und richtet sich dann auch danach; die Nöte der Menschen sind vielfältig und gehen einen Türmer nichts an, sie werden auch nicht auf den Turm getragen und dort zur Schau gestellt, oder nur in Ausnahmefällen.
Das Mädchen Veronika sollte ihn nicht länger beschäftigen und ihm am Ende vielleicht gar den Schlaf rauben. Einen Menschen, der entschlossen ist, kann auch kein Türmer aufhalten, so oder so wird der Mensch zum Ziel gelangen. Er wird einen Weg, einen Moment finden. Wenn er es wirklich will.
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