Das Wunder von Bern - Fußball spielt Geschichte
Ihre neuen Gesellschaftsordnungen hatten beide nicht aus freien Stücken gewählt, sie wurden ihnen von den Alliierten vorgegeben: die kommunistische auf der einen, die demokratische auf der anderen Seite. In Ungarn war es bald der pure Hass auf den stalinistischen Terrorstaat, in Deutschland eine apolitische Reserviertheit der ungewohnten Demokratie gegenüber, die auf ganz gegensätzliche Weise die Entfremdung zwischen Staat und Volk kennzeichneten. Die Nationalmannschaften nahmen in beiden Ländern eine Mittlerposition ein.
Die Spieler um ihren Kapitän Ferenc »Ãcsi« Puskás waren so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner zwischen stalinistischem Regime und ungarischem Volk â eine Art nationaler Kitt. Auch wenn die Partei die FuÃballer als Waffe im Propagandakrieg nutzte â die Menschen standen zu
ihren
Jungens. Die Siege der Mannschaft waren auch ihre Siege, sie sorgten für Selbstbewusstsein und für Augenblicke nationaler Zusammengehörigkeit. In Bern war dieser Kitt mürbe geworden: Nach dem Schlusspfiff brach sich die Wut des Volkes Bahn. In Ungarn kam es zu den ersten Ausschreitungen, seitdem die Kommunisten die Herrschaft inne hatten â und sie fielen in eine Zeit, da bereits ein Machtkampf zwischen Stalinisten und Reformern in der kommunistischen Partei brodelte. Die Niederlage im FuÃball war der Auslöser, die Ursachen lagen tiefer: Die Proteste richteten sich gegen die Stalinisten um Parteichef Mátyás Rákosi â und sie waren das Vorspiel zum Volksaufstand zwei Jahre später.
So wie die ungarische Mannschaft nach der Niederlage in Bern ihre Funktion als Vermittler eingebüÃt hatte, so manifestierte sich diese Rolle in Deutschland erst nach dem Sieg der FuÃballer um Fritz Walter. Der Weltmeistertitel bescherte den Menschen ein Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit und auch der Identifikation mit ihrem Staat. Weniger neues Selbstbewusstsein, als viel mehr ein neues Bewusstsein von sich selbst hätten die Deutschen bekommen, urteilt Joachim Fest. Dass es etwas anderes war als die plumpe Wir-sind-wieder-wer-Floskel, das bestätigen auch die anderen für dieses Buch befragten deutschen Zeitzeugen.
Um die Bedeutung dieses Endspieles für beide Nationen zu begreifen, um die völlig unterschiedlichen Erwartungen an die Mannschaften zu verstehen, muss man ihre Entwicklung vor dem Hintergrund der jeweiligen Nachkriegsgesellschaften sehen. Vergleicht man sportliche und gesellschaftliche Tendenzen jener Jahre, so wird deutlich, auf welch unterschiedliche Weise FuÃball Geschichte spielen kann.
Die Reportagen des Endspiels sind in beiden Ländern zu Legenden geworden â »Kinder, ist das eine Aufregung. Ihnen an den Lautsprechern wird es genauso gehen, wie den 30.000 Schlachtenbummlern, die sicherlich aus Deutschland wieder hergekommen sind, und wie uns drei, vier Leuten in der engen Rundfunkkabine. Wir haben heute übrigens die beste Rundfunkkabine. Zum ersten Mal, aber auch begründet, denn wir sind ja auch im Endspiel ⦠schön«, freute sich Herbert Zimmermann zu Beginn der Ãbertragung, während der kleine Hans-Christian Ströbele in Marl, Westfalen, in Richtung elterlicher Wohnung eilte: »Ich war etwas zu spät, als ich durch die StraÃen unserer kleinen Werkssiedlung rannte, vorbei an all den offenen Fenstern. Das Endspiel hatte schon begonnen und aus jeder Wohnung hörte ich die Stimme meines Onkels. Ich war natürlich wahnsinnig stolz, weil mein Onkel ein so berühmter Rundfunkreporter war«, erzählt Ströbele, heute stellvertretender Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag. Der Onkel erzählte seinem Neffen später, dass er es nicht unbedingt als dankbare Aufgabe empfunden habe, ein Spiel zu übertragen, in dem Deutschland sowieso verlieren würde. Deshalb habe er sich schon vorher überlegt, was er sagen könnte â und so stapelte er gleich zu Beginn der Reportage permanent tief: es sei ja schon ein groÃer Erfolg, dass man ins Endspiel gekommen sei. Zimmermanns schnarrende Stimme gehört zum auditiven Repertoire einer Generation: von einem pädagogischen »Was wir befürchtet haben, ist eingetreten« nach der frühen Führung der Ungarn über ein dankbar geschrieenes »Toni, du bist ein Teufelskerl. Toni, du bist ein FuÃballgott« nach einer Glanzparade des deutschen Torwarts und einem
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