Das Wunder von Bern - Fußball spielt Geschichte
bis nach dem Mauerfall. Dann gewann Deutschland noch einmal eine Weltmeisterschaft. Und erst danach sah man Deutsche aus Ost und West in den StraÃen das erste Mal gemeinsam schwarz-rot-goldene Fahnen schwenken. Einmal mehr war eine Last von ihnen gefallen. Dass sich das deutsche Nationalgefühl abermals ein Stück weiterentwickelte, war wieder den Ungarn zu danken, die 1989 durch ihre Grenzöffnung einen wichtigen Anteil am beschleunigten Zusammenbruch der DDR hatten.
Bis die Mannschaften Ungarns und Deutschlands von 1954 schlieÃlich zum Mythos wurden, dauerte es seine Zeit.
Der Mythos speiste sich vor allem aus der frappierenden Analogie zwischen Sport und Geschichte: In Ungarn bleibt die Erinnerung an eine Mannschaft, die zwar im entscheidenden Spiel alles verloren hat, die aber dennoch eine zeitlang die beste der Welt war. So war sie, wie die Gesellschaft auch, Sieger in der Niederlage. Auf der anderen Seite hatte die deutsche Mannschaft im Kleinen das Unmögliche erreicht, genauso wie es der Gesellschaft im GroÃen gelungen war. Das machte den Mythos aus. Und den galt es zu bewahren. Sei 50 Jahren kocht man ihn immer wieder auf. Zurückgeblieben ist eine sehr reduzierte, im Geschmack viel zu intensive Essenz dessen, was einstmals das Endspiel von Bern war.
Sönke Wortmann hat diese Rezeptur in seinem Film zum Wunder von Bern angewandt, der kurz vor dem Endspiel in Bern einsetzt und dessen Erzählstrang kurz danach auch schon wieder abbricht. Die Vergangenheit taucht in Form eines aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrenden Vaters auf, der durch das FuÃballspiel geläutert wird, und die Zukunft wird im Abspann mit dem Satz abgefertigt: »Ein Jahr später begann das Wirtschaftswunder«. Das Spiel schloss also die leidige Vergangenheit ab und es machte den Weg frei für bessere Zeiten.
Johann Schlüper ist so etwas wie der Nachlassverwalter des Wunders. In seiner Wohnung hängen Devotionalien des Endspiels: Wimpel, ein Steinchen der Stadionuhr aus dem Wankdorf, Autogrammkarten. 1 Doch Schlüpers Hauptinteresse ist ein anderes. In Deutschen Archiven lagern etwa 18 Minuten Filmmaterial. Den Rest des Wunders hat die Münchner Firma »Sportfilm-Schubert« auf den Müll geworfen, weil sie Platz im Schrank brauchte. So ist das Wunder zusammengeschrumpft auf ein paar Torraumszenen, die sie dann und wann aus den Archiven holen und mit dem Radio-Kommentar von Zimmermann unterlegen, weil der stimmungsvoller ist, als der originale im Fernsehen. Schlüper hat eine Mission. Er sucht nach weiteren Filmsequenzen. Seit zehn, zwölf Jahren tut er das. Er schrieb an FuÃballverbände und Archive, doch das Spiel scheint niemand mehr in voller Länge zu besitzen. Immer wieder schicken sie ihm ein paar Sekunden Wunder nach Erkelenz. Auch die Szene von Puskásâ angeblichem Abseitstor nennt er sein eigen. »Wenn das Abseits war, heià ich Meier«, sagt Schlüper. 2 Zu laut will er das aber nicht herausposaunen, weil sonst ja irgendwie auch der Mythos kaputt gehen könnte.
Das Belvédère in Spiez ist sich da mit Schlüper einig. Anlässlich des 50. Jubiläums veranstaltet es ein »Wunder-von-Bern-Wochenende« inklusive Ausstellung. In der ist ebenfalls jenes nie gezeigte Filmmaterial zu sehen. Auch das vermeintliche Abseitstor? »Darauf werden wir wohl verzichten«, sagt Markus Schneider vom Hotel und lächelt. Mythos soll ja Mythos bleiben.
Die Redakteure der öffentlich-rechtlichen Sender suchen zu ihren Jubiläumsdokumentationen ebenfalls nach verschollenem Filmmaterial. Mit ihrer Logistik, mit ihrem Geld haben sie Schlüper längst überholt. Und auch sie sind fündig geworden. Präsentiert hat der Redakteur Markus Braukmann einen Teil des Materials im Sommer 2003 in der ARD. Farbmaterial aus Bern, gefilmt für einen Schweizerischen FuÃballlehrfilm. Als Waldemar Hartmann in illustrer Runde mit Horst Eckel, Uwe Seeler, Rudi Völler und Franz Beckenbauer ein paar Szenen weltexklusiv zeigte, da sagte Franz Beckenbauer fröhlich: »Habtâs die angemalt?« und fuhr recht unbeeindruckt fort: »Ich findâ, die Bilder sollten schwarz-weià bleiben. Es war die schwarz-weiÃe Zeit. Es war die Zeit, wo die Trümmer noch da waren. Da passt einfach keine Farbe.« Sprachâs und lachte sein entwaffnendes Kaiser-Lachen â und traf den Nagel auf den Kopf. Schwarz-weià heiÃt: andere Zeit, andere
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