Das zarte Gift des Morgens
aufgeregt war sie gewesen, zu viel Schlimmes war passiert. Gefürchtet hatte sie sich nur vor dieser einen Stimme – der ihres Ex-Mannes.
Die Abzweigung nach Malachowka führte in einen Tannenwald. Auf beiden Seiten der Straße tauchten Datschen auf – alte, neue, davor Holunderbüsche, Hecken, Zäune.
Da war auch schon die dichte grüne Hecke der letzten Datscha. Die Gartenpforte war mit wilden Rosen und verblühtem Jasmin überwachsen. Aurora hielt an, stieg aus und ging auf die Pforte zu. Sie war nicht verschlossen. Ein imposantes Grundstück, wohl gut ein Hektar Wald, allerdings ungepflegt und verwildert. Mit Gartenarbeit hatte sich hier offensichtlich noch nie jemand beschäftigt. Die Beete waren mit Disteln überwuchert, die Sträucher, die am Zaun wuchsen, der reinste Dschungel. Den Weg zum Haus konnte Aurora im hohen dürren Gras nur mit Mühe erkennen. Langsam ging sie auf die Datscha zu. Es war ein altes, zweistöckiges Haus, recht groß, mit einem Vorbau in Art eines Türmchens. Ein Wintergarten erstreckte sich über die gesamte Vorderfront; die Fenstervorhänge waren zurückgezogen, die Eingangstür stand weit offen. Aurora stieg die knarrenden Treppenstufen hoch und rief: »Guten Tag, da bin ich! Hallo!« Sie schaute durch die Tür. Im Inneren standen Polstermöbel und eine Anrichte. Den größten Teil des Raums aber nahm ein riesiger ovaler Tisch ein, auf dem eine weiße Leinendecke lag. In einer Vase stand ein Feldblumenstrauß. Im Zentrum des Tisches prangte ein dampfender antiker Samowar, daneben standen eine große Thermoskanne, eine Schale mit grünen Äpfeln, ein weißes Teekännchen mit lustigen roten Pünktchen, eine üppige Cremetorte in einer durchsichtigen Plastikschachtel, allerlei Häppchen, Flaschen mit Kognak und dem von Aurora so geliebten Likör »Cointreau« und drei Teegedecke.
Aurora seufzte erleichtert auf und warf ihre Handtasche auf das Sofa. Sie hatte es geschafft. Jetzt gleich würde sie endlich die wichtigste Frage ihrer verworrenen Zukunft klären – die Wohnungsfrage.
»He, wollt ihr euren Gast nicht empfangen?«, rief sie laut.
»Du bist schon da?«, erklang aus dem Inneren des Hauses Marias Stimme. »Einen Moment, ich bin noch im Bad . . .«
Eine Minute später erschien Maria Potechina im Wintergarten, in einem beigefarbenen, luftigen Hosenanzug und mit einem Handtuch. Sie lächelte Aurora zu und legte das Handtuch zur Seite.
»Ich bin auch eben erst gekommen. Ein Staub ist das auf der Straße – entsetzlich.« Sie schüttelte ihr schwarzes Haar. »Sitschkin ist schwimmen gegangen, er kommt gleich zurück. Wir können inzwischen eine Tasse Tee trinken. Oder möchtest du lieber einen starken Kaffee, als Muntermacher nach der anstrengenden Fahrt?«
»Riesig gern«, sagte Aurora und setzte sich an den Tisch.
»Ich verstehe gar nichts, Anfissa.« Katja wurde allmählich nervös. »Wer ist denn dieser Sitschkin überhaupt?«
»Ein in Moskau sehr bekannter Immobilienmakler. Er war ein Freund meiner Tante Shenja, der Schwester meines Vaters. Vor zwei Jahren hat er mir beim Kauf einer Wohnung geholfen. Wir, also mein Vater, Tante Shenja und ich, haben ihn damals ein paarmal auf seiner Datscha in Malachowka besucht – er wohnte wegen seines kranken Herzens ständig auf der Datscha. Als Aurora mir sagte, Maria Potechina hätte heute ein Treffen mit ihm auf seiner Datscha organisiert, wegen einer Wohnung, da . . . Katja, ich weiß nicht, vielleicht ist es ja irgendeine Verwechslung, aber das ist alles sehr seltsam . . . Das kann gar nicht sein!«
»Warum denn nicht?«
»Weil Sitschkin vor drei Monaten an einem Herzinfarkt gestorben ist! Tante Shenja war bei seiner Beerdigung auf dem deutschen Friedhof, sie erzählt jetzt dauernd, dass man einen solchen Experten für Immobilien heute nirgends mehr findet.«
Katja schwieg und lauschte auf das Klopfen ihres Herzens. Eine konkrete Gefahr konnte sie immer noch nicht erkennen, aber Anfissas Aufregung und Angst übertrugen sich auch auf sie.
»Würdest du diese Datscha wiederfinden?«, fragte sie.
»Ich denke schon, aber es ist ziemlich weit, in Malachowka . . . Wie sollen wir dort hinkommen?«
»Warte in fünfundvierzig Minuten an der Metrostation ›Rjasanski Prospekt auf mich, da steigst du zu mir ins Auto und zeigst mir den Weg. Hast du verstanden?«
»Ja. . . .Ja, ich habe verstanden. Ich bin schon unterwegs, Katja!«
Auf dem Weg nach draußen wählte Katja die Nummer von Kolossows Handy. Aber sie hatte Pech, sein
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