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Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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dass es ihre Schatten an den W änden waren.
    » W o sind wir ? « Das war ihre eigene Stimme. M e ine
    Stimme.
    »Noch lange nicht in Sicherheit.«
    Sie sah ihn jet z t e i n w e nig deutlicher, obwohl er noch im m er so schrecklich nah bei ihr war, sein Gesicht neben dem ihren, den Arm stützend um ihren Oberkörper gelegt. Er trug einen Mantel und war unrasiert, sein Haar klebte wirr an den Schläfen. Sie fragte sich, ob er so schwitzte, weil er etwas sehr Anstrengendes getan hatte, um sie hier rauszuholen. Das er für sie getan hatte. Und sie kannte nicht ein m al seinen Namen.
    »Vorsicht!« Dann riss er sie auch schon beiseite, bevor sie über das helle Bündel am Boden stolpern konnte.
    »Das war ein Mensch«, flüsterte sie kraftlos.
    »Ja.«
    »Haben Sie ihn getötet ? « W i e selbstverständlich das klang, wie etwas, das sie auswendig gelernt hatte! Das hatte sie wohl oft getan, Worte auswendig gelernt.
    »Sie ist nicht tot«, sagte er nach einem Augenblick, der ihr ewig erschien.
    Also war es eine Frau. Eine Frau in heller Kleidung, die auf einem Korridor im Nirgendwo lag. Alles war so irreal wie der W eg durch eine Fil m kulisse.
    Der Mann schob sie durch eine Öffnung.
    »Das ist keine Tür«, sagte sie benom m en.
    »Nein. Natürlich nicht.«
    Sie m usste klettern, über einen Mauervorsprung.
    »Ein Fenster«, flüsterte sie.
    »Richtig. Halten Sie sich fest … ja, genau so.«
    Unter ihr e n Füßen scheppe r t e es m etalli s ch. Eine Feuerleiter. All diese Stu f en hinunter, im Z i ckzack an einer Hauswand entlang. Ihr war kalt, und es w a r dunkel. Der Him m el über ihnen war pec h schwarz, sie sah deutlich
    ein paar Sterne. Sie konnte den Großen W agen erkennen, aber noch immer nicht das Gesicht des Mannes neben ihr. Sie fror ganz erbär m lich, aber das lag nicht nur an der W itterung; sie fror vor Müdigkeit, vor Sch w äche. Sie wollte sc h l af en, endlich wieder sc h l a f en. Er hatte k e in Recht, sie durch diese Kälte zu zerren und zu schieben.
    »Ich bin C hiara Mondschein«, sagte sie, weil sie sich gerade daran erinnerte.
    Er sagte nichts.
    »Mondschein«, wiederholte sie.
    »Ja.«
    »Kenne ich Sie ? «
    »Ja.«
    » W oher ? «
    »Das erklär ich Ihnen später. Bis dahin ist es Ihnen vielleicht selbst schon wieder eingefallen.«
    Er drängte sie die Treppe hinunter, und sie wagte nicht, stehen zu b l eiben, um einen Blick in s ein Gesic h t zu werfen. Lief einfach weiter, bis er si e aber m als warnte, an der Schulter zurückhielt und dann langsa m e r von der letzten Stufe auf harten S t einboden führte.
    » W ir sind unten«, sagte er. »Laufen Sie nach links.«
    Sie hatte keine Ahnung, was m it ihr geschehen war, aber sie erinnerte sich sehr wohl, wo links war. Sie lief los, wie er es verlangt hatte. U m sie herum nichts als Dunkelheit, und als sie auch darin Gestalt e n zu sehen glaubte, wurde ihr schlagartig bewusst, dass dies nicht m ehr ihre Schatten sein konnten: Ohne L i cht keine Schatten. Kolossale Gestalten, die sie beobac h teten, lang und dürr und verdreht, m it Gliedern wie aus Ästen. Kreidehände, Kreidefinger; Kinder hatten sie an die W ände ge m alt. Es mussten Kinder gewesen sein, auch wenn all diesen Figuren etwas W ildes, Heidnisches anhaftete.
    Um eine Ecke, eine Straße e n tlang, jetzt wieder Lichter. Leere Schaufenster, die darauf zu warten sc h i enen, dass je m and von draußen hereintrat und sich zum Verkauf anbot. In einem eine einzelne Schaufensterpuppe, die zum Leben erwachte, als C hiara vorüber lief – ihr eigenes Spiegelbild. An das b l onde Haar musste sie sich erst gewöhnen. Besser noch, es dunk e l färben. So schnell wie möglich wieder sie selbst sein.
    Der Mann war zurüc k geblie b en, aber als s i e sich jetzt nach ihm u m schaute und dabei für eine Sekunde langsa m er wurde, prallte er gegen sie, und fast wären beide ge s t ürzt. Die Lic h trefl e xe auf dem Kopfs t einpflaster sprangen ihr entgegen, aber der Mann riss sie zurück und hielt sie auf den Beinen.
    »Ihren Namen«, brachte sie ate m los hervor.
    »Sager.«
    »Sollte ich m i ch … daran erin n er n ?«
    »Konrad Sager. Nein, Sie kennen m e inen Na m en nicht.«
    »Sie können sich nicht vorste l len, wie sehr m i ch das beruhigt.«
    »Zu m indest erinnern Sie sich an Ihren eigenen.«
    Sie hätte bitter aufgelac h t, hätte sie die Luft dazu gehabt.
    »Das hier ist nicht Meißen, nicht wahr ? «
    »Meißen? W i e komm e n Sie d a rauf ? « Er schob sie um eine weitere

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