Deer Lake 01 - Sünden der Nacht
einfach nicht!«
»Hannah!«
»Mein Gott, du hast doch eine Tochter, du solltest es verstehen! Ausgerechnet du …«
»Hannah!« rief er energisch. Sie zuckte zusammen und blinzelte.
»Du weißt, daß ich dir helfen werde, aber du mußt dich jetzt zusammenreißen und mir alles von Anfang an erzählen.«
Megan beobachtete die Szene von ihrem Platz an der Tür aus. Das Büro war ein klaustrophobischer Würfel, dunkel, billig getäfelt. Zertifikate der Handelskammer und verschiedener Bürgergruppen in schief hängenden Plastikrahmen dekorierten die Wände. Die Aktenschränke und der zerbeulte Metallschreibtisch bildeten einen krassen
Gegensatz zum verschrobenen Charme des Restaurants. Die Frau – Hannah – sank im Stuhl zusammen, preßte eine Hand vor den Mund und versuchte, sich mit zusammengekniffenen Augen zu fassen.
Selbst in ihrem augenblicklichen Zustand – weinend, die Haare zerzaust – war sie eine fabelhafte Erscheinung. Groß, schlank, mit einem Gesicht wie vom Titelblatt einer Modezeitung. Mitch stellte sich direkt vor sie, mit dem Rücken zum Schreibtisch, aber nach vorne gebeugt, völlig auf Hannah konzentriert, abwartend, geduldig, intensiv. Er streckte ihr wortlos die Hand hin. Sie nahm sie und drückte sie mit aller Kraft, wie jemand, der unter gräßlichen Schmerzen leidet.
Megan beobachtete ihn voller Bewunderung und ein bißchen Neid. Der Umgang mit Opfern war noch nie ihre Stärke gewesen. Für sie bedeutete es, wenn man einem Leidenden halft, daß man sich selbst einen Teil seiner Last aufbürdete. Sie hatte es immer für klüger und sicherer gehalten, emotionell Abstand zu wahren. Objektivität nannte sie das. Aber Mitch Holt hatte keine Schwierigkeiten, jemandem die Hand zu reichen.
»Ich sollte ihn vom Eishockeytraining abholen«, begann Hannah kaum hörbar, so, als würde sie gleich eine furchtbare Sünde beichten.
»Gerade wollte ich das Krankenhaus verlassen, als ein Notfall eingeliefert wurde, und deshalb konnte ich nicht rechtzeitig losfahren. Jemand hat für mich in der Eishalle angerufen, um ihnen zu sagen, daß ich mich ein bißchen verspäte. Dann hatte einer meiner Patienten einen Herzstillstand und …«
Ich habe die Patientin verloren und jetzt auch noch meinen Sohn. Das Gefühl des Versagens und der Schuld drohten sie zu überwältigen und sie mußte ein bißchen warten in der Hoffnung, daß es erträglicher würde. Sie klammerte sich noch fester an Mitchs große, warme Hand. Dieses Gefühl peinigte sie so sehr, daß sie schließlich die gefürchteten Worte aussprechen mußte.
»Ich hab’s vergessen. Ich hab vergessen, daß er wartet.«
Eine frische Woge von Tränen rann über ihre Wangen und fielen wie Regen in den Schoß des langen Wollrocks. Sie krümmte sich zusammen, wollte sich wie ein Fötus einrollen, während der Kummer ihre Seele beutelte. Mitch beugte sich näher zu ihr und streichelte ihr Haar, versuchte ihr ein bißchen Trost zu spenden. Der Polizist in ihm blieb ruhig, wartete auf Fakten, ging im Geiste die Möglichkeiten durch. Tief in seinem Inneren verspürte der Vater in ihm instinktiv Angst.
»Als ich z-zur Eishalle kam, war er weg.«
»Aber Schätzchen, wahrscheinlich hat ihn Paul abgeholt …«
»Nein, mittwochs bin ich immer dran.«
»Hast du Paul angerufen und das überprüft?«
»Ich hab’s versucht, aber er war nicht im Büro.«
»Dann ist Josh wahrscheinlich mit einem der anderen Jungs mitgefahren. Er ist bestimmt bei einem seiner Freunde zu Hause …«
»Nein, ich hab jeden angerufen, der mir eingefallen ist. Ich hab den Babysitter angerufen, Sue Bartz. Ich dachte, vielleicht würde er da warten, bis ich Lily hole, aber Sue hat ihn nicht gesehen.« Und Lily war immer noch dort und wartete auf ihre Mutter.
Vermutlich fragte sie sich, warum Mama dagewesen und ohne sie gegangen war. »Ich hab zu Hause nachgeschaut, nur für den Fall, daß er sich entschlossen hätte, zu Fuß zu gehen, hab die anderen Hockey-Mütter angerufen, bin zur Eishalle zurückgefahren, zurück ins Krankenhaus und kann ihn einfach nicht finden. «
»Haben Sie ein Foto von Ihrem Sohn?« fragte Megan.
»Sein Schulbild. Es ist nicht das beste – er hatte zu lange Haare, aber da war nicht genug Zeit.« Hannah zog ihre Tasche auf den Schoß und suchte dann mit zittrigen Händen nach ihrer Briefmappe. »Er hat den Zettel von der Schule nach Hause gebracht und hab’s mir aufgeschrieben, aber dann ist mir einfach die Zeit davongelaufen und ich – hab nicht mehr
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