Deer Lake 01 - Sünden der Nacht
einem Schluck zu überreden. Paul war diese Beleidigung nicht entgangen. Er warf der Frau einen zornigen Blick zu, dann beugte er sich vor und kippte Süßstoff in seine Tasse.
»Du glaubst doch nicht wirklich, daß jemand, den wir kennen, zu so etwas fähig wäre«, sagte er.
»Nein«, log Mitch. Statistiken rollten vor seinem inneren Auge ab wie Nachrichteneinblendungen im Fernsehen. Die Mehrzahl aller Kindesentführungen wurden nicht von Fremden begangen. »Aber ich möchte, daß ihr beide nachdenkt. Waren irgendwelche Patienten oder Klienten sauer auf einen von euch? Habt ihr in letzter Zeit irgendwelche Fremden in der Nachbarschaft bemerkt, irgendwelche unbekannten Autos, die langsam vorbeigefahren sind? Irgend etwas Ungewöhnliches?«
Paul starrte in seinen Kaffee und seufzte. »Wann, bitte, sollen uns denn Fremde auffallen, die sich hier rumtreiben? Ich bin den ganzen Tag im Büro. Hannah hat noch wesentlich schlimmere Arbeitszeiten als ich, seit sie Leiterin der Notaufnahme geworden ist.«
Hannah zuckte zusammen. Ein weiterer Giftpfeil hatte sein Ziel gefunden. Mitch überlegte, ob er sie fragen sollte, wie lange sie schon Probleme hatten, aber er hielt den Mund. Vielleicht war es auch nur der Streß, der Pauls grausame Ader zum Vorschein brachte.
»Hat Josh irgendwas erzählt, daß jemand sich ums Haus rumtreibt oder ihn auf der Straße angesprochen hat?«
Hannah schüttelte den Kopf. Sie stellte mit heftig zitternder Hand ihre Kaffeetasse aufs Tablett zurück und vergoß dabei die Hälfte, was sie einfach ignorierte. Sie krümmte sich zusammen, schlang die Arme um die Knie und schluchzte, daß ihr ganzer Körper bebte. Jemand hatte ihren Sohn gestohlen. Mit einem Wimpernschlag war Josh aus ihrem Leben verschwunden, von einem gesichtslosen Fremden an einen namenlosen Ort verschleppt, mit einer Absicht, an die keine Mutter auch nur denken wollte. Sie fragte sich, ob er fror, ob er Angst hatte, ob er an sie dachte und sich wunderte, warum sie ihn nicht abgeholt hatte. Sie fragte sich, ob er noch am Leben war.
Paul erhob sich aus dem Sessel und begann im Zimmer auf- und abzuirren. Sein Gesicht wirkte blaß, eingefallen.
»Solche Sachen kommen hier nicht vor«, grollte er. »Deswegen sind wir aus dem Twin Cities hierhergezogen – um in einer kleinen Stadt unsere Kinder ohne die Angst aufzuziehen, daß irgendein Perversling …« Er hieb seine Faust auf den Kaminsims. »Wie konnte das passieren? Wie konnte das bloß hier passieren?«
»Es gab keine Möglichkeit, so was rational zu erklären, gleichgültig, wo es geschieht«, sagte Mitch. »Das Beste was wir tun können, ist uns darauf zu konzentrieren, Josh zu finden. Wir werden euer Telefon anzapfen und eine Fangschaltung legen, für den Fall, daß ein Anruf kommt.«
»Sollen wir etwa hier herumhocken und warten?« fragte Paul. »Jemand muß dasein, für den Fall, daß das Telefon klingelt.«
»Hannah kann am Telefon bleiben.« Er hatte seine Frau einfach als Freiwillige gemeldet, ohne sie zu fragen und auch ohne nur einen Gedanken an ihren mentalen Zustand zu verschwenden, dachte Mitch.
Allmählich verlor er die Geduld. »Ich möchte bei der Suche helfen, muß irgend etwas tun.«
»Ja, gut.« Mitch sah zu, wie Natalie sich neben Hannah kniete und versuchte, ihr ein paar Worte des Trostes zu vermitteln. »Paul, warum gehen wir nicht raus in die Küche und besprechen das, in Ordnung?«
»Was kann ich für die Sache mitbringen?« fragte er, als er hinter Mitch hertrabte. Er war bereits vollauf damit beschäftigt, den
Schlachtplan festzulegen. »Laternen? Taschenlampen? Wir haben eine gute Campingausrüstung …«
»Das ist in Ordnung«, sagte Mitch knapp. Er sah Paul Kirkwood direkt in die Augen und gönnte ihm einen kurzen Moment, um zu erkennen, daß es bei dieser Konferenz nicht um die Suche ging. »Paul, ich weiß, daß diese Situation für alle hart ist«, sagte er leise, »aber könntest du deiner Frau gegenüber ein bißchen mehr Mitgefühl aufbringen? Hannah braucht deine Unterstützung.«
Paul sah ihn beleidigt an. »Ich bin im Augenblick ein bißchen wütend auf sie«, sagte er zwischen den Zähnen. »Sie hat unseren Sohn alleingelassen, so daß er entführt werden konnte.«
»Josh ist ein Opfer der Umstände. Genau wie Hannah übrigens. Sie konnte nicht ahnen, daß genau in dem Moment, in dem sie loswollte, um Josh abzuholen, ein Notfall eingeliefert würde.«
»Nein?« Er schnaubte verächtlich. »Wieviel würdest du drauf setzen,
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