Deer Lake 01 - Sünden der Nacht
des Ekels, als sie den Schlüssel aus dem Schloß zog. »Leo war ein Mordstyp«, sagte sie resigniert. »Keinen blassen Schimmer von Hauspflege, aber ein Mordstyp.«
Megan griff in eine vergessene Doughnut-Schachtel und holte einen heraus, der schon ganz versteinert war. Sie ließ ihn in einen Mülleimer fallen, wo er mit Getöse landete, wie eine Ladung Schrot in einer leeren Öltonne. »Gut, daß er nicht hier gestorben ist. Keiner hätte es gemerkt.«
»Ich wollte ja die Putzkolonne reinschicken, nachdem Leo von uns gegangen war«, sagte Natalie. »Aber wir sollten alles so lassen, bis der neue Agent seinen Vertrag erhalten hätte.« »Hab ich ein Glück!«
Megan zog ein Messingnamensschild aus ihrer Aktentasche und stellte es vorne an ihren Schreibtisch, steckte ihr Territorium mit dem Geschenk ab, das sie sich selbst zur Feier ihres neuen Jobs gekauft hatte. Auf der Vorderseite war in kühnen Lettern ihr Name eingraviert: AGENT MEGAN O’MALLEY, BCA. Auf der Rückseite stand das Motto: TAKE NO SHIT, MAKE NO EXCUSES.
Natalie sah sich beide Seiten an. Ihr Lachen hätte jeder Sirene Ehre gemacht. »Sie könnten vielleicht die Richtige sein, Agent O ’ Malley .«
»Wenn ich nicht vorher an den Dämpfen hier eingehe«, schränkte Megan ein.
Sie begann den Unrat auf dem Schreibtisch zu sortieren, stapelte die Papiere zu wahllosen Haufen, warf Schokoverpackung und genug Styroporbecher, um ein Ozonloch von der Größe Iowas zu produzieren, in den Papierkorb, leerte zwei Aschenbecher voller Zigarrenstummel aus und ein halbgegessenes Slim Jim. Soeben hatte sie das Telefon ausgegraben, da klingelte es auch schon.
Natalie legte den Schlüssel auf einen freigelegten Quadratzentimeter an der Ecke des Schreibtischs und verließ den Raum, versprach aber noch, jemanden von der Hausverwaltung mit einem Müllcontainer und einer Dose Raumdeo vorbeizuschicken. Megan winkte ihren Dank und griff sich den Hörer.
»Agent O’Malley, BCA.«
»Die Tinte auf Ihren Beförderungspapieren ist noch nicht mal trokken, und ich hab schon ein halbes Dutzend Anrufe von Reportern, die sich nach Ihnen erkundigen.«
Als sie DePalmas Stimme hörte, schloß sie die Augen und verfluchte alle Reporter der Welt.
»Hier geht’s um Entführung, Bruce«, sagte sie und ließ sich in einen rotzgrünen Schreibtischsessel fallen. Den Sitz hatte Leos dicker Hintern total durchgesessen, und er hing scharf nach links durch. Die Polsterung war an einigen Stellen glatt, an anderen voller Höcker und mit Flecken übersät, die Megan lieber nicht genauer untersuchen wollte. »Ich gebe mir größte Mühe, die Aufmerksamkeit der Reporter auf den Fall zu lenken und nicht auf mich.«
»Das sollten Sie verflucht noch mal auch. Der Superintendent möchte nicht, daß das Bureau ins Scheinwerferlicht gerät. Und schon gar nicht, daß Sie Schlagzeilen machen. Ist das klar?«
»Ja, Sir«, erwiderte sie resigniert. Das Gespenst ihrer Kopfschmerzen reckte wieder seinen häßlichen Hals. Sie rieb sich die Schläfen.
»Wie kommt denn die Suche voran?«
»Bis jetzt keine Ergebnisse. Wir beten um einen Hinweis. Ich denke, das Blatt mit der Nachricht wird uns nicht weiterbringen.«
»Harte Sache, so eine Kindsentführung«, knurrte DePalma. Es klang nicht nur nach professioneller Besorgnis, sondern auch nach persönlicher. DePalma besaß drei Söhne, von denen einer etwa in Joshs Alter war. Megan hatte oft das Familienfoto auf seinem Schreibtisch gesehen. Sie sahen alle aus wie Bruce, die armen Jungs, kleine Nixonmasken
auf schlaksigen Körpern in verschiedener Länge. »Ich hab am Fall Wetterling mitgearbeitet«, fuhr er fort. »Es war für alle Beteiligten sehr hart. Tun Sie Ihr Bestes, und immer schön den Kopf einziehen.« Mitchs Worte hallten durch ihren Kopf, als sie den Hörer auflegte und in Leos Stuhlruine sank -, mein Bestes war nicht genug … wieder einmal. Sie durfte sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, was er mit wieder einmal gemeint hatte. Ihr kollektives Beste mußte gut genug sein für Josh.
Der Inhalt der Nachricht fiel ihr wieder ein. Sie fand eine leere Stelle auf der Schreibunterlage, zwischen den Tintenflecken und den Telefonnummern für Pizza-ins-Haus und schrieb die Worte mit Tinte auf: Unwissenheit ist nicht Unschuld, sondern SÜNDE. Unwissenheit vorüber? Über wen? Das Zitat stammte von Robert Browning. War das von Bedeutung? Sie mischte in Gedanken Möglichkeiten wie Spielkarten, Unwissenheit, Unschuld, Sünde, Poesie, Literatur –
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