Deer Lake 01 - Sünden der Nacht
krasse Gegenteil von den Priestern, mit denen sie aufgewachsen war. Und sie erwischte sich bei der Überlegung, warum ausgerechnet ein Mann mit seinem Aussehen und Charme Priester geworden war.
Mühelos las er ihre Gedanken. »Es ist eine Berufung«, sagte er mit sanfter Stimme und setzte sich wieder in seinen Stuhl, »keine Notlösung wie bei Männern, die sonst nichts anzufangen wissen.«
»Aber manchmal werden die falschen Leute berufen«, warf Megan ein, um das Thema zu wechseln und von ihrer Beschämung abzulenken.
Pater Tom schien vor ihren Augen zu altern. »Nein«, er schüttelte den Kopf, »diese Leute hören eine andere Stimme.«
»Die Stimme des Bösen? Den Teufel?«
»Ich glaube absolut daran. Sie doch auch, oder, Agent O’Malley?«
Sie antwortete nicht sofort, blieb eine Minute still sitzen und dachte
über ihre irisch-katholische Erziehung nach. Selbst wenn man das wegließ, würde sie dieselbe Antwort geben. Mittlerweile hatte sie auf den Straßen zuviel gesehen, um irgend etwas anderes zu verfechten.
»Ja, das tu ich«, stimmte sie leise zu. »Und was mich angeht, sind Kinderschänder das Böseste überhaupt. Also fällt Ihnen etwas ein, was mir helfen wird, den Arsch dieses Dreckschweins an die Wand zu nageln?« Ihre vulgären Worte entlockten ihm nicht einmal ein Wimpernzucken. »Nein, ich wünschte, das täte es. Gestern abend hatten wir eine Gebetswache hier. Die meiste Zeit hab ich damit verbracht, mir die Leute genau anzusehen, in der Hoffnung, jemanden zu entdecken, der nicht reinpaßt – der vielleicht käme, um zu sehen, was er in dieser Gemeinde angerichtet hat. Ich dachte, ich erkenne ein Merkmal. Sie wissen schon – glühende Augen, E 605 auf seiner Stirn eingebrannt -, aber das kommt wohl doch nur im Kino vor.«
»Und wie steht’s mit Josh selbst? Haben Sie irgendeine Veränderung in seinem Verhalten bemerkt?«
»Ja, also …« Er nahm sich einen Moment Zeit und wählte seine Worte sorgfältig. »Stiller war er in letzter Zeit geworden. Ich glaube, Hannah und Paul haben Probleme. Es hat zwar keiner von ihnen etwas gesagt, ist nur so ein Gefühl von mir. Josh ist ein sensibler Junge, Kinder kriegen viel mehr mit, als Erwachsene annehmen. Aber mir ist nichts Offenkundiges aufgefallen. Er nimmt seine Pflichten als Ministrant sehr ernst.«
»Sie bilden die Jungs selber aus?«
»Wir haben jetzt auch Mädchen: der Beitrag der Kirche zum Zeitalter der Gleichberechtigung. Natürlich werden sie nie Frauen als Priester zulassen, aber …« Er verstummte, ehe er wieder zu radikale Ansichten äußern konnte und warf Megan einen schuldbewußten Blick zu, seine Brille war ihm auf die Nase gerutscht. »Also um Ihre Frage zu beantworten, Albert Flechter und ich, wir arbeiten beide mit den Kindern. Es läuft so als Guter-Cop-Böser-Cop-Spiel. Albert bläut ihnen die Regeln ein, dann zwinkere ich ihnen zu und lasse sie wissen, daß es in Ordnung ist, wenn sie ab und zu Mist bauen, solange sie nicht auf die Hostien niesen.«
Megan lächelte über den Scherz, aber ihre Gedanken waren bereits bei Albert Fletcher, dem religiösen Fanatiker, den Mann, der zur Antwort auf ihre Fragen die Bibel zitiert hatte. Sie fragte sich, ob er wohl Robert Browning genausogut auswendig kannte: Unwissenheit ist nicht Unschuld, sondern SÜNDE.
»Wissen Sie zufällig, was für einen Wagen Mr. Fletcher fährt?«
»Einen braunen Toyota. Ist Albert auch kein Verdächtiger?« fragte der Priester mit einem ironischen Lächeln.
Megan erhob sich mit ernstem Gesicht. »Zu diesem Zeitpunkt, Pater, ist jeder kein Verdächtiger. Und Sie? Was fahren Sie denn?«
»Einen roten Ford-Geländewagen.« Er grinste und zog die Schultern hoch. »Jemand muß doch den Status quo aufbessern, warum also nicht ich.«
Es juckte sie ebenfalls in den Mundwinkeln. Wenn es in ihrer Jugend Priester wie Tom McCoy gegeben hätte, hätte sie in der Kirche vielleicht tatsächlich aufgepaßt, anstatt die ganze Zeit die Rückseite ihres Gesangbuchs vollzukritzeln.
»Pater Tom, haben Sie kurz Zeit für mich?«
Megan drehte sich zur Tür, als sie Mitchs Stimme vernahm. Er marschierte mit offener Jacke und zerzausten Haaren ins Büro und schien verärgert, daß sie ihm in St. Elysius zuvorgekommen war.
»Ah, Agent O’Malley«, sagte er, »drehen Sie jetzt die Priester durch den Wolf?«
»Ich habe Pater Tom nur ersucht mir beizustehen, damit ich um Geduld im Umgang mit arrogantem Chefgehabe beten kann.«
Nachdem ihm keine passende Antwort
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