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Wetterleuchten

Wetterleuchten

Titel: Wetterleuchten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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Cillas Welt
    I ch war zwei Jahre alt, als ich zu meinen Eltern kam, und die einzigen Erinnerungen, die ich vor den Erinnerungen an sie habe, sind wie Träume. Ich werde getragen. In der Nähe ist Wasser. Mir ist kalt. Jemand hält mich in seinen Armen und rennt, und mein Kopf ist so fest an seine Schulter gedrückt, dass es bei jedem Schritt wehtut. Die Art, wie er mich hält, verrät mir, dass es ein Mann ist. Denn es ist Männern nicht von Natur aus gegeben, jemanden zu halten.
    Es ist Nacht, und ich erinnere mich an Lichter. Ich erinnere mich an Stimmen. Ich erinnere mich daran, dass ich vor Angst und Nässe zittere. Dann wickelt man mich in etwas Warmes, und das Zittern hört auf, und dann schlafe ich ein.
    In einem weiteren Traumfetzen sehe ich mich an einem anderen Ort. Eine Frau sagt mir, dass sie jetzt meine Mommy ist, und zeigt auf einen Mann, der sich über mich beugt und sagt, dass er jetzt mein Daddy ist. Aber sie sind nicht meine Eltern und werden es nie sein, ebenso wie die Worte, die sie benutzen, nicht meine Worte sind und es nie sein werden. Das ist die Ursache aller meiner Probleme.
    Ich spreche nicht. Ich gehe nur umher, zeige auf etwas und beobachte. Solange ich tue, was man mir sagt, komme ich zurecht. Aber ich habe vor Dingen Angst, vor denen andere Kinder keine Angst haben.
    Vor allem habe ich Angst vor Wasser, und das war von Anfang an ein Problem. Denn ich lebe mit der Mommy und dem Daddy in einem Haus hoch oben auf einer Klippe, unter der sich kilometerweit Wasser erstreckt, und von den Fenstern des Hauses aus kann ich nichts weiter sehen als Wasser. Deshalb würde ich mich am liebsten ständig im Haus verstecken, aber das geht nicht, denn ein Kind muss Zeit mit der Familie verbringen und in die Kirche und zur Schule gehen, wenn es älter wird.
    All das tue ich nicht. Ich versuche es zu tun, die Mommy und der Daddy versuchen, mich dazu zu bringen, es zu tun, und andere Leute versuchen es auch. Aber alle scheitern.
    Deshalb lande ich schließlich ganz weit weg an einem Ort, wo mich kein Wasser umgibt. Da sind Leute, die mich betasten. Sie schieben mich hierhin und dorthin. Sie reden über meinen Kopf hinweg. Sie beobachten mich auf Videos. Sie zeigen mir Bilder. Sie stellen mir Fragen. Während all das vor sich geht, höre ich: »Sie müssen irgendetwas mit ihr tun, deshalb haben wir sie hierhergebracht«, und diese Worte haben keine Bedeutung für mich. Aber in dem Klang dieser Worte erkenne ich eine Art Abschied.
    Ich bleibe an diesem Ort ohne Wasser, wo man mir die Grundlagen beibringt, die für das menschliche Leben gelten. Ich lerne, mich zu waschen und zu essen. Mehr als das lerne ich nicht. Wenn man mir eine einfache Aufgabe stellt, kann ich sie erfüllen, sofern man mir ganz genau zeigt, was ich tun muss. Schließlich begreifen sie, dass mit meinem Gedächtnis alles in Ordnung ist. Das ist jedoch auch alles, was sie begreifen. Sie stempeln mich zum Rätsel ab. Es ist ein Segen, sagen sie, dass ich zumindest gehen und essen und mich waschen kann. Das, sagen sie, ist schon Grund zur Freude.
    Am Ende werde ich zurück zu der Mommy und dem Daddy geschickt. Jemand erklärt: »Du bist jetzt achtzehn. Ist das nicht toll?«, und obwohl diese Worte keine Bedeutung für mich haben, wird mir klar, dass sich die Dinge verändern werden. Bleibt nur noch eine Fahrt an einem bitterkalten Januarmorgen und ein festliches Picknick, um meine Rückkehr zu feiern.
    Wir sind unterwegs zu einem Park. Die Fahrt dorthin kommt mir ewig vor. Wir überqueren eine hohe Brücke, und die Mommy ruft: »Mach die Augen zu, Cilla! Da ist Wasser!« Ich tue, was sie sagt, und kurz darauf haben wir die Brücke auch schon hinter uns gelassen. Wir biegen in ein Waldstück mit Bäumen ein, die hoch in den Himmel ragen, und folgen einer sich windenden Straße, die immer weiter abwärts fuhrt. Sie ist mit in Winterstürmen abgefallenen Zedernnadeln übersät.
    Am Ende der Straße ist ein Parkplatz. Dort gibt es Picknicktische, und die Mommy sagt: »Ein idealer Tag für ein Picknick! Geh runter zum Strand, Cilla, während ich alles vorbereite. Ich weiß doch, wie gerne du den Strand betrachtest.«
    Der Daddy sagt: »Ja, komm, Cill«, und als er auf dichtes, glänzendes Gestrüpp unter den Bäumen zumarschiert, folge ich ihm einem Pfad entlang, der direkt durch dieses Dickicht führt. Da ist ein Weg, teils Sand, teils Erde, auf dem wir unter Zedern und Tannen gehen und an Farne und Felsen streifen, bis wir endlich den Strand

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