Depesche aus dem Jenseits
wurden.
Hundert Jahre später — also 1930 — läutet François Le Gac eines schönen Donnerstagnachmittags am Tor des Kermarec-Schlosses. Ein Volksschullehrer, der an diesem schulfreien Tag schon frühmorgens mit seinen Schülern zu einer Fahrradtour durch die Wälder aufgebrochen war. Nun sind die Kinder müde und haben außerdem Durst.
Im Schloß wohnt niemand mehr, seit langem schon. Die adelige Familie lebt in Paris und kommt nur während der Sommermonate in den Ferien nach Kermarec.
Gleich heben dem Parktor steht ein kleines Pförtnerhaus, in dem ein altes Ehepaar — Nachkommen der früheren Dienerschaft — seinen Lebensabend verbringt. Die beiden Alten sind immer ganz glücklich, wenn sich jemand in der Gegend verirrt und am Tor läutet.
»Ob wir Trinkwasser haben? Aber ja doch, kommen Sie herein mit Ihren Rangen!«
»Sehr freundlich von Ihnen, danke. Dürften wir vielleicht auch hier im Park unsere Brote auspacken und uns ein bißchen ausruhen? Die Kinder waren noch nie in einem Schloß, es würde ihnen bestimmt viel Spaß machen!«
»Immer herein mit euch! Ich komme gleich nach und bringe euch gutes frisches Wasser und für Sie einen Krug Cidre!«
Schwer zu sagen, wer sich am meisten freut: die Buben oder der alte Pförtner, der sich nach dem Essen im Freien zu der vergnügten Runde gesellt hat und nun vor diesem dankbaren Publikum die Sagen und Geschichten zum besten gibt, die sich in diesem Gemäuer zugetragen haben. Die Jungen hören mit offenem Munde zu. So müßte Schule immer sein! Und als der Lehrer fragt, ob es eventuell möglich sei, das Schloß auch innen zu besichtigen, brechen alle Kinder in ein Freudengeheul aus und springen sofort auf. Der Alte kann nicht mehr springen, aber sein gutes Herz hüpft doch vor Freude. Er holt einen großen klirrenden Schlüsselbund, und die Besichtigung beginnt...
Für diese Bauernkinder ist es ein großes Erlebnis, sie sind nicht mehr zu bremsen! Sie rennen kreuz und quer durch die halbdunklen Hallen und Säle, fliegen die Treppen hinauf und hinunter, stehen mit großen Augen vor den Bildern der Ahnengalerie und untersuchen neugierig die Ritterrüstungen. Sie klettern auf die zwei Meter hohen Marmorkamine, hopsen wieder herunter — sie sind völlig aus dem Häuschen! Und jede Ermahnung zu Ruhe und Ordnung ist sinnlos. Dem Lehrer wird es langsam peinlich, aber der gute Alte scheint gar nichts dagegen zu haben — im Gegenteil — er spielt mit, als hätte er nur darauf gewartet, daß endlich wieder Leben in diese düsteren Mauern kommt.
Mittlerweile sind alle auf dem Dachboden und bewundern durch die Luken die schöne weite Landschaft. Von hier oben kann man bis zum Ende der Welt sehen, so kommt es ihnen vor! Da plötzlich krümmt sich der alte Bretone vor Schmerz und preßt beide Hände gegen die Brust. Es war alles zu viel für ihn. Die Kinder sind sofort still und scharen sich um den Alten. Der Lehrer behält einen kühlen Kopf:
»Jungs, ihr bleibt da und paßt auf, daß er sich nicht bewegt! Er braucht Luft! Macht alle Luken auf! Ich laufe zum Pförtnerhaus... die Frau hat vielleicht ein Herzmittel für ihn.«
François Le Gac stürzt die Treppen hinunter und erreicht eine Plattform mit vielen Türen, er öffnet sie der Reihe nach — nirgendwo eine Treppe. Als sie hinaufstiegen, hat er nicht aufgepaßt! Wo geht es nun weiter nach unten? Ach da — die Wendeltreppe im Turm, ja, schnell, weiter! Es ist aber sehr dunkel hier, und es riecht so modrig, so feucht? Nein, diesen Weg sind sie vorhin nicht gegangen. Aber weiter, diese Steintreppe führt ja auch nach unten, sicher nach draußen.
Endlich steht François am Ende der Treppe — es ist so stockdunkel, daß er mit den Händen die Wände abtasten muß, um sich zurechtzufinden. Wo ist nur die Tür? Es muß doch eine Tür geben!
Er fühlt ein gewisses Unbehagen in sich hochsteigen. Nein, wirkliche Angst hat er nicht, wovor denn? Aber es ist alles so unheimlich still hier und finster! Da ruft er, wie um sich selbst zu beruhigen:
»Ist wer da?«
Bestimmt hätte ihn eine Antwort noch mehr erschreckt als die erdrückende Stille! Er tastet sich weiter vor... Da bewegt sich etwas. Ja, endlich eine Tür! Hinein, bloß raus hier! Wieder falsch. Nun zwingt er sich, ganz ruhig zu atmen, egal wie stickig die Luft ist — er muß ruhig bleiben und nachdenken, scharf nachdenken. Aus seiner Hosentasche holt er eine Schachtel Streichhölzer hervor. Es sind nur noch wenige drin. Aber er findet auch
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