Der 50-50 Killer
dann träumte ich eigentlich nicht direkt von ihr. Sie war immer nur durch ihre Abwesenheit wichtig. Genauso wie es war, wenn ich wach war.
Auch der Traum an diesem Morgen war nicht anders gewesen.
Ich saß in Shorts am Strand und starrte auf den Horizont. Meine Haut war nass und sandig, und ich zitterte. Das Meer vor mir war windstill und friedlich, die Wellen rollten langsam heran, und das Wasser glättete sich sanft. Die Wogen flachten ab, wenn sie auf den Strand hinaufliefen und sich dann mit leisem Zischen zurückzogen. Der Himmel über mir war blau und dunstig, und wo er schließlich in der Ferne auf die glatte See traf, wurde er immer heller und fast weiß. Ein merkwürdiger Vogelschwarm zeichnete sich wie Kursivschrift dagegen ab.
Das war alles.
Oberflächlich betrachtet harmlos, doch als ich aufwachte, fühlte ich mich wie zerschmettert, und ein Gefühl der Verzweiflung lastete fast körperlich auf mir. Einen Augenblick lang erkannte ich nicht einmal das fast leere Zimmer um mich herum. Was …? Dann erinnerte ich mich, dass ich in einen anderen Landesteil gezogen war. Die Wohnung, die Stelle. Ich rieb mir den Schlaf aus dem Gesicht, und meine Handfläche wurde feucht vor Schweiß.
Mein Gott, Lise, dachte ich.
Du suchst dir aber auch Tage aus, um mich zu besuchen.
Und dann hielt ich inne, denn irgendetwas stimmte nicht. Ich brauchte nur eine Sekunde, um zu erkennen, was es war. Leise Musik spielte in meinem neuen Schlafzimmer. Das war nicht richtig, denn ich hatte eine vage Erinnerung an die andere Musik, die gespielt hatte, bevor ich in den Traum versunken war. Ich drehte den Kopf zur Seite und schaute auf den Radiowecker …
»Mist«, sagte ich. Das reichte nicht. »Scheiße.«
Ich hätte schon vor über einer Stunde aus der Dusche kommen und die Kaffeemaschine in Gang setzen sollen. Ich schloss die Augen.
Du suchst dir wirklich die richtigen Tage aus, um mich zu besuchen.
Ein kleinerer Geist wäre vielleicht sofort aufgesprungen und hätte das ganze Mist-und-Scheiße-Thema mit größerer Lautstärke weiter ausgeführt, doch es gibt Dinge, die wichtiger sind als Zuspätkommen. Und so blieb ich stattdessen noch ein paar Sekunden liegen, atmete tief durch und versuchte den Traum festzuhalten, der langsam entschwand. Das Gefühl tiefer Verzweiflung blieb, und das war nicht toll, aber manchmal ist Verzweiflung besser als gar nichts. Manchmal ist es das richtige Gefühl.
Du suchst dir wirklich die richtigen Tage aus für deine Besuche, dachte ich.
Aber du bist immer willkommen.
Und dann kroch ich endlich aus dem Bett, eilte in den Flur und versuchte, mich zu erinnern, wo zum Kuckuck in meiner neuen Wohnung das Bad war.
Um halb zehn fuhr ich an meinem ersten Arbeitstag mit genau einer halben Stunde Verspätung auf einen Parkplatz mit knirschendem Kies und einem Maschendrahtzaun.
Wettermäßig war es ein mieser, beschissener Morgen und passte daher genau zu meinem gegenwärtigen Gefühl der Frustration. Der Himmel hing voll Wolkenfetzen, so schmutzig wie Schnee nach einem Tag matschiger Fußspuren, und er konnte sich nicht entscheiden, ob es richtig regnen sollte oder nicht, so dass er sich stattdessen nur gelegentlich verdunkelte und Nieselregen fallen ließ. Die Grasstreifen auf dem Parkplatz waren zerwühlt und nur noch Matsch. Auf dem Weg hierher hatte ich den Lokalsender gehört, und der Wettermann hatte fröhlich erklärt, es gäbe eine gute und eine schlechte Nachricht. Der Regen werde am späten Vormittag aufhören, dafür jedoch würde es später schneien.
Am Ende des Parkplatzes stand das gedrungene, niedrige Empfangsgebäude der Polizeistation. Dahinter erstreckten sich mehrere Gebäude mit hellbraunen Betonwegen dazwischen, und auf dem wenigen Glas spiegelte sich nur der dunkle Himmel, dahinter ließ sich nichts erkennen. Vor einem Monat, als ich zum Vorstellungsgespräch hier gewesen war, war mir die Abteilung eher wie ein Ort vorgekommen, an dem ein Verbrechen begangen werden, als einer, wo eines gemeldet werden konnte. Der Komplex wirkte wie eine verlassene Nervenheilanstalt.
Ich stellte den Motor ab, und der Regen sorgte für ein vertrauliches Prasseln auf dem Wagendach. Es regnete auf die Windschutzscheibe, vor der allmählich alles verschwamm. Am ersten Tag zu spät zu kommen! Wenn ich als Clown verkleidet aufgetaucht wäre, hätte das wohl kaum unprofessioneller gewirkt. Mit dem rechten Zeigefinger trommelte ich einen Augenblick zerstreut auf meinen linken Ellbogen, doch ich
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