Der 50-50 Killer
Prolog
»Wir brauchen nicht zu gehen«, sagte sie. »Wenn du nicht willst …«
John Mercer betrachtete sich im Spiegel und gab keine Antwort. Er sah nur auf die Hände seiner Frau, die ihm seine Krawatte umlegte und den Knoten zurechtzog. Wie immer umsorgte sie ihn. Er hob das Kinn ein wenig an, damit sie den Schlips besser binden konnte. Zuerst machte sie einen lockeren Knoten und zog ihn dann fest.
»Die Leute hätten bestimmt Verständnis dafür.«
Er wünschte, es wäre wirklich so. Oberflächlich gesehen würde man ihm Mitgefühl entgegenbringen, aber bei genauerer Betrachtung würden sie es als das ansehen, was es war: eine Verletzung seiner Pflicht. Er konnte sich das Gerede in der Kantine genau vorstellen. Die Leute würden seine Abwesenheit bemerken und sagen, dass es ihm wohl sehr nahegegangen sein musste. Und unabhängig davon, wie er sich fühlte, würden sie in Wirklichkeit denken, er hätte zur Beerdigung kommen sollen. Er hätte die Zähne zusammenbeißen und die Verantwortung übernehmen müssen. Zumindest das hätte er tun können. Und sie hätten ja recht. Es wäre unverzeihlich, nicht daran teilzunehmen. Nur hatte er keine Ahnung, wie er das durchstehen sollte.
Eileen steckte das lose Ende der Krawatte zwischen die Knöpfe an seinem Hemd und strich es glatt.
»Wir brauchen nicht hinzugehen, John.«
»Du verstehst das nicht.«
Die Luft im Schlafzimmer wirkte im Morgenlicht stahlblau. Seine Haut sah im Spiegel weiß und schlaff aus, und sein Gesicht wirkte fast leblos. Um seinen Körper zu umfassen, musste sie sich zwar immer noch strecken, doch er schien ihr nicht mehr so robust wie früher. Dinge hochzuheben kam ihm schwerer vor, als es eigentlich war. Er ermüdete schnell. Im Augenblick trug sein Gesicht einen starren Ausdruck von Traurigkeit und Leere, und seine Arme hingen reglos herunter. Irgendwie war er alt geworden, und es schien ihr, als sei diese Veränderung erst kürzlich eingetreten.
Eileen sagte: »Ich verstehe, dass es dir nicht gutgeht.«
»Ich fühle mich gut.«
Doch das stimmte nicht. Wenn er sich vorstellte, vor all diesen Leuten stehen zu müssen, regte sich etwas in seinem Herzen und machte ihn immer beklommener. Wenn er zu viel darüber nachdachte, bekam er kaum noch Luft.
Eileen seufzte hinter ihm. Dann legte sie ihm die Arme um die Schultern und lehnte ihre Wange an seinen Rücken.
Er war erleichtert. Wenn sie ihn so festhielt, konnte er einfach hier und jetzt nur dieser Mann sein und alle Pflichten und die Verantwortung vergessen, alles, was auf ihm lastete. Langsam legte er seine Hand auf ihre. Sie hatte kleine, warme Hände.
So standen sie eine Weile, Mann und Frau eng umschlungen, und er betrachtete sich im Spiegel. Trotz ihrer tröstlichen Berührung war er starr wie eine Statue, die in einem Augenblick der Leere entstanden war. In seinen Augen sah er gelegentliche Funken von Gefühl aufleuchten, wie in einem Flugzeug, in dem man durch die Wolken hindurch nur ab und zu ein Fleckchen Erde aufblitzen sieht. Nirgends gab es einen sicheren Ort, wo seine Gedanken landen konnten. Und trotzdem konnte er nicht ewig in der Luft bleiben. Schließlich drückte er Eileens Hand und löste sich aus der Umarmung.
»Ich muss meine Rede noch üben.«
Begräbnisse waren aus vielen Gründen traurig, was ihn jedoch immer am meisten beeindruckte, war die große Anzahl von Trauergästen. Die Toten wären sicherlich überrascht, dass sie so beliebt gewesen waren und, ohne es zu wissen, im Leben so vieler Menschen eine Rolle gespielt hatten. Der Tod brachte selbst die zusammen, die mit dem Verstorbenen nur durch eine flüchtige Bekanntschaft verbunden waren. Es kamen immer viele Menschen.
Und bei Beerdigungen von Polizisten war das erst recht der Fall. Mercer sah sich um. Die meisten aus der Abteilung waren hier, auch Kollegen, die nie mit Andrew zusammengearbeitet und ihn wahrscheinlich gar nicht gekannt hatten. Sie waren aus einem Gefühl der Verantwortung und Verbundenheit heraus gekommen. Alle hatten beim Eintreten Andrews Familie ihr Beileid ausgesprochen und dann auf der rechten, für Kollegen reservierten Seite der Kapelle Platz genommen. Die meisten trugen Uniform.
Mercer saß auf dieser Seite ganz vorn, die anderen Mitglieder seines Teams neben ihm. Eileen saß hinten auf der linken Seite, und er schaute sich immer wieder um und hoffte, sie ausmachen zu können. Jedesmal, wenn er sie sah, legte sich seine Panik etwas, und er setzte sich wieder auf der Bank
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