Der Augensammler
von alleine abfallen.
Aber immerhin waren es Lebenszeichen, die mir zeigten, dass Tim trotz seiner schweren Krankheit ein halbwegs normales Leben zu Hause bei seinen Eltern führte und nicht den letzten Stunden in einem Kinderhospiz entgegendämmerte.
»Mama sagt, seit damals auf der Brücke bist du nicht mehr der Alte.« Julian sah mich mit großen Augen an. Damals auf der Brücke.
Manchmal umschreiben Worte ein ganzes Universum. »Ich liebe dich« oder »Wir sind eine Familie« zum Beispiel. Eine Kombination harmloser Buchstaben, die deinem Leben einen Sinn geben. Und dann gibt es Sätze, die ihn dir wieder entreißen. »Damals auf der Brücke« fiel definitiv in die letzte Kategorie. Wenn es nicht so traurig wäre, hätte man darüber lachen können, dass wir uns im Familienkreis wie die Figuren eines Harry-Potter-Romans benahmen, wenn wir von Du-weißt-schon-wer sprachen, anstatt die Dinge beim Namen zu nennen. Angelique, die geistig verwirrte Frau, der ich das Leben genommen hatte, war mein persönlicher Voldemort geworden.
»Julian, geh du doch schon mal vor in den Aufenthaltsraum, wo die Kinder auf uns warten, okay?« Ich kniete mich hin, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein. »Ich will nur schnell nachsehen, ob ich mein Portemonnaie im Wagen vergessen habe.« Julian nickte stumm.
Ich folgte ihm mit meinem Blick, bis er um die Ecke verschwunden war und ich nur noch das Stampfen seiner Turnschuhe und das Schleifgeräusch der schweren Tragetasche hörte.
Dann erst drehte ich mich um, verließ das Krankenhaus und kehrte nie wieder dorthin zurück.
82. Kapitel
Der Volvo parkte im wintermorgendlichen Halbdunkel unter einer gewaltigen Kastanie vor der Klinik, deshalb steckte ich den Zündschlüssel ins Schloss, damit das Leselicht über dem Beifahrersitz funktionierte. Ich suchte überall: im Fußraum, hinten auf den Rücksitzen, unter einem Stapel alter Zeitungen neben mir. Kaum etwas hasste ich so sehr wie vollgestopfte Hosentaschen beim Fahren, und so warf ich in der Regel Schlüssel, Handy und Brieftasche auf den Nachbarsitz, bevor ich mich ans Steuer setzte. Ein Ritual, das ich diesmal offenbar durchbrochen hatte. Denn außer einem Kugelschreiber und einer angebrochenen Packung Kaugummis konnte ich nichts finden. Ich beförderte die Zeitungen in den Fußraum und sah auch zwischen den Polsterritzen nach. Nichts. Das Portemonnaie blieb verschwunden.
Nachdem ich noch einmal unter den Sitzen gesucht hatte, öffnete ich das Handschuhfach, obwohl ich mir sicher war, hier noch nie etwas anderes aufbewahrt zu haben als den Scanner, mit dem ich den Polizeifunk abhörte. Zu Beginn meiner Reporterlaufbahn hatte es mir jedes Mal einen Stich versetzt, wenn ich die Stimmen meiner ehemaligen Kollegen hören musste. Mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt, nicht mehr dazuzugehören. Außerdem hatte Thea Bergdorf, meine Chefin, mir den Job nur wegen meiner Insiderkenntnisse gegeben. Es war eine ungeschriebene Bedingung meines Arbeitsvertrags, den Polizeifunk zu verfolgen, wann immer ich unterwegs war. Ganz besonders an Tagen wie diesen, an denen wir mit dem Schlimmsten rechneten. Also hatte ich es so eingerichtet, dass sich der Scanner automatisch einschaltete, sobald ich den Zündschlüssel umdrehte, und deshalb blinkte das zischende Ding im Handschuhfach wie ein Weihnachtsbaum. Ich wollte die Suche gerade beenden und endlich zu Julian zurückkehren, als ich eine Stimme hörte, die mich meine Sorge um das verschwundene Portemonnaie sofort vergessen ließ.
»... Westend, Kühler Weg, Ecke Alte Allee ...«
Ich sah zum Handschuhfach, dann drehte ich den Scanner lauter.
»Wiederhole. Eins null sieben am Kühlen Weg. Mobile Einheiten der AS4 vor Ort.«
Mein Blick wanderte zu der Uhr im Armaturenbrett.
Verdammt. Nicht schon wieder.
Eins null sieben. Der offizielle Funkcode für den Fund einer Leiche. AS4.
Die vierte Spielrunde des Augensammlers hatte begonnen.
81. Kapitel
(Noch 44 Stunden und 38 Minuten bis zum Ablauf des Ultimatums)
Tobias Traunstein (9 Jahre)
Dunkel. Schwarz. Nein, nicht schwarz.
Das ist das falsche Wort. Es war ja nicht so wie der Lack von Papas neuem Wagen. Auch nicht wie diese fleckige Dunkelheit, die vor den Augen zuckt, wenn man sie plötzlich schließt. Und es war auch nicht dieses gräuliche, schummerige Schwarz, das er von der Nachtwanderung her kannte, die sie mit Frau Quandt gemacht hatten. Das hier war anders. Irgendwie dichter. Unheimlicher. Als wäre er in einem Ölfass
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